
Übersetzung: Karen Gerwig und Angelika Müller, Pulp Master Verlag, 416 Seiten, ISBN: 978-3946582168
Es gibt so viele Dinge im Leben, über die man nichts weiß. Und anstatt Sachbücher zu wälzen, finde ich es immer fantastisch, wenn AutorInnen mir ein Thema verpackt in einer guten Geschichte, ok bei mir meist in einer Kriminalgeschichte, näher bringen. Und so gelingt das auch Meg Abbott in ihrem Spannungsroman “Aus der Balance”, denn wer hätte schon gedacht, dass Ballett so spannend und faszinierend sein kann, ganz abseits einer Ballettaufführung? Und, noch nebenbei erwähnt, ist Meg Abbott die erste (aber hoffentlich nicht die letzte) Autorin im Programm des Pulp Master Verlages. Tendenziell sind Autorinnen im Pulp/Noir Genre ja eher wenig zu finden, umso wichtiger, dass diejenigen, welche sich in dem Genre tummeln, auch veröffentlicht werden.
Die beiden Schwestern Dara und Marie, führen gemeinsam mit Charlie, der sowohl Daras Ehemann ist als auch der frühere Meisterschüler ihrer Mutter war, die Ballettschule, die ihre Mutter gründete. Mögen die Ballettschülerinnen mit straff geknoteten Haaren und rosa Tutu das Ebenbild von Perfektion und Reinheit abgeben, so sieht es hinter den Kulissen ganz anders aus. Neid und Missgunst, Ehrgeiz und kaputte Füße unterlegt mit einem ranzigen Schweißgeruch beherrschen die Ballettsäle der Schule. Dara, Marie und Charlie treiben den Wettbewerb unter ihren Schülern zusätzlich voran, denn nur diese klaustrophobische Atmosphäre bringt wahre Stars der Branche hervor, nur wer diese Qualen durchsteht, erhält die begehrten Studienplätze. Ähnlich eng und intim ist auch die Beziehung dieser drei, die miteinander aufgewachsen sind und Zeit ihres Lebens kaum je getrennt waren. Sie leben in ihrer eigenen kleinen Welt. Als durch einen Brand der Bauunternehmer Derek in ihr Leben tritt, gerät diese “heile” Welt aus den Fugen.
Ohne dass überhaupt dieser Fremdkörper namens Derek, in die Welt der Drei platzt, fand ich die Beschreibung der Atmosphäre – der intimen Beziehung der drei Protagonisten, der beiden Häuser, das alte Wohnhaus und die Schule, beides etwas vergammelt und knarzig, des Ballettunterrichts mit allen seinen Facetten von aufgeregten Schülerinnen sowie wenigen Schülern, die außerhalb viel Häme ertragen müssen, und ehrgeizigen Eltern, und das alles auf die Spitze getrieben durch die jährliche Nussknacker-Aufführung, die aus aufgeregt und ehrgeizig neidisch und bösartig macht – unglaublich intensiv und schaurig. Untermalt wird diese Szenerie durch Rückblicke in Daras und Maries Vergangenheit, welche die Omnipräsenz ihrer Mutter offenbart und die Schwäche und Abwesenheit ihres Vaters.
Dieses fragile, aber in sich gefestigte Konstrukt, immer noch aufrecht gehalten von Daras und Maries verstorbenen Mutter, bekommt Risse als Derek, der Bauunternehmer, in ihr Leben tritt. Einer, der so gar nicht in das zart-harte Ballettmilieu passt. Ein so fürchterlich männlicher Mann, groß und grob, wild und animalisch, einer, der seinen Platz behauptet und sich nimmt was er will. Ein Brocken von einem Kerl, so gegensätzlich zu dem feinen, leidenden und kränkelnden Charlie. Der Bauunternehmer kommt in die Ballettschule um den abgebrannten Saal zu erneuern, hämmert, sägt, zerstört und nimmt sich Marie.
Und wenn man so will, beginnt nun ein Tanz. Doch ganz entgegen der Erwartungen, finden sich die Tänzerinnen selbst hier erst gar nicht zurecht. Der Bauunternehmer gibt den Ton an, spielt mit den Dreien, verfolgt seine Ziele. Er treibt die Drei vor sich her, beeinflusst und flüstert, macht Andeutungen und ist immer präsent. Es scheint, als würden die drei den Kerl nie wieder los werden. Es ist ein Katz-und-Maus-Spiel, bei dem man nur ganz klar weiß, auf welcher Seite Dara und auf welcher Seite Derek stehen. Bei Marie, nun, die hat dem Bauunternehmer ja erst Tür und Tor geöffnet. Und Charlie ist so weich und schmerzerfüllt, gegen so einen Felsen kommt er nicht an.
Ein Kammerspiel, umrundet von Mäuschen und Schneeflocken in Tutus, entspinnt sich. Zu der eh schon schaurigen Atmosphäre gesellen sich nun Sex und Verlangen, Erniedrigung und Demütigungen. Hinterlistig schleicht sich Derek in das Leben der Tänzer und hebelt es aus allen Strukturen und den Dreien gelingt es erst nur ohnmächtig zuzusehen. Doch Derek kann sich nicht zu früh freuen, denn das Trio hat noch einige Familiengeheimnisse in petto. Die Autorin wartet nicht nur mit einigen Enthüllungen und Überraschungen auf, sondern entfernt auch eine Komponente früher als ich gedacht hätte. Wer nun denkt, ab da wäre die Spannung abgeflaut, der ist auf einem Irrweg, denn der Stein, den Dereks Auftauchen und Eindringen in die Familie, ins Rollen gebracht hat, lässt sich nicht aufhalten.
Abschließend kann ich nur sagen, dass mir Megan Abbotts Geschichte außerordentlich gut gefallen hat. Dabei ist es auch nicht wichtig, ob man die Geschichte nun als Krimi, Spannungsroman oder sonstiges einordnet, denn gute Geschichten sprengen sowieso die dargelegten Grenzen. Aber seid Euch gewisse – an Spannung mangelt es in “Aus der Balance” keinesfalls. Man sollte sich auch keineswegs von dem Thema Ballett abschrecken lassen – vor allem nicht die Männer, die Ballett als reine Frauensache abstempeln. Denn dann würden sie eine ausgezeichnet ausgefeilte Geschichte in einer schräg-schaurigen Atmosphäre verpassen, die es einem unmöglich macht, das Buch nicht gierig aufzusaugen. Zumal man in der Geschichte auch rausfinden kann, dass Ballerinen durchaus keine zarten Geschöpfe sind, sondern genau wissen, was Schmerzen sind.
Was soll ich sagen – es gibt also wirklich so gar keinen Grund, warum man “Aus der Balance” nicht lesen sollte. Bitte greift unbedingt zu!
Ach, und ganz zum Schluss noch ein Lob an den Verlag. Es ist wundervoll, dass Megan Abbott beim Pulp Master Verlag eine Heimat gefunden hat und auch schon ihr nächstes Buch angekündigt wurde. Ich freu mich sehr darauf! Aber ja, auch da müsst ihr stark sein, denn da geht es um Cheerleading.