Ich denke ja, es ist schon lange allen klar, aber wer es nun doch noch nicht weiß: ich bin ein großer Fan von Anne Goldmann und Ihren Büchern. Und wie wundervoll, es gibt ein neues Buch von Ihr! Vorgestern konntet Ihr meine Rezension zu „Das größere Verbrechen“ lesen, und heute darf ich Euch ein kleines, aber sehr feines Interview, dass mir die Autorin gegeben hat, präsentieren. Viel Spaß dabei!
In allen Ihren Büchern thematisieren Sie die Einsamkeit, Anonymität, das Alleinsein. Dies ist auch in Ihrem neuen Buch „Das größere Verbrechen“ nicht anders. Exemplarisch an drei Frauen zeigen Sie, wie Gewaltverbrechen Opfer stigmatisieren können, in welche Isolation und Einsamkeit diese sich zurückziehen. Mitten im Leben, aber trotzdem einsam. Den Opfern von Gewaltverbrechen wird meistens die wenigste Aufmerksamkeit gewidmet – war das der oder einer der Gründe, warum Sie dieses Buch geschrieben haben?
Genau. Wer Gewalt erlebt, ist konfrontiert mit extremer Angst und Hilflosigkeit, wird aus der Bahn geworfen. Das Selbstverständnis und die Sicherheit, mit der man sich bis dahin in der Welt bewegt hat, sind dahin. Zusätzlich zu erfahren, dass Täter und Täterinnen ungeschoren davonkommen, während man selber noch immer an den Folgen trägt, ist kaum zu verkraften. In der Kriminalliteratur wird den Tätern häufig viel Platz eingeräumt (obwohl sich auch das zu meiner Freude langsam ändert – siehe Sonja Hartl im Gespräch mit Andrea Gerk https://www.deutschlandfunkkultur.de/literarische-genderdebatte-brauchen-wir-mehr-krimis-ohne.1270.de.html?dram:article_id=411694). Die Gewalthandlungen, Attacken werden oft bis ins Detail geschildert, Leserinnen und Leser zu Voyeuren gemacht.
Ich arbeite, wie Sie wissen, seit vielen Jahren mit Straftätern und habe einen grundsätzlich anderen Zugang. In meinem neuen Roman kommen zwei Frauen miteinander in Kontakt, deren Verletzungen weit zurück in der Vergangenheit liegen. Die ältere, Selma, erkennt sofort, dass auch Theres Gewalt erlebt hat, fühlt mit ihr, muss sich selber schützen und kommt doch gegen die Erinnerungen, die Flashbacks nicht an. Die dritte Frau, Ana, die bei beiden sauber macht, achtet darauf, weder da noch dort anzustreifen…
Das „Größere Verbrechen“ ist mit Sicherheit herausfordernder als meine ersten drei Bücher, weil die Leserin, der Leser sich auf die Erinnerung der beiden Protagonistinnen einlassen muss, deren Wahrnehmung immer wieder zersplittert, abbricht, erneut einsetzt, auf die Erklärungen, die sie für sich gefunden haben und die jetzt am Prüfstein stehen.
Haben Sie durch Ihre Arbeit mit Straftätern auch Kontakt zu den Opfern? Oder sind Sie für Recherchezwecke auf Opfer zugegangen? Ich stelle mir das höchst schwierig vor und nur mit sehr viel Sensibilität machbar. Im Grunde ist es die Frage, wieviel Wahrheit in Ihrer Fiktion steckt?
Ja, hab ich. Und jede der Geschichten, die ich erzähle, hat einen Keim, einen Auslöser, etwas, das mich berührt und nachhaltig beschäftigt hat. So ist das auch hier. Manche der Anfänge reichen weit zurück. In den 1990er Jahren tobte in unmittelbarer Nachbarschaft Österreichs, in Bosnien, einer der brutalsten Kriege nach dem Zerfall Jugoslawiens. Ich hatte, mitten im Frieden, über Nacht zum ersten Mal mit jungen Männern und ihren Familien zu tun, die dem Grauen entronnen waren und verzweifelt versuchten, das Erlebte zu vergessen, wieder Fuß zu fassen, in eine Art von Normalität zurückzukehren. Die ganze Dimension der Gräuel dieses Krieges wurde erst nach und nach sichtbar. Ich habe von der Arbeit von Medica Zenica/Medica Mondial https://www.medicamondiale.org/nc/nachrichten/20-jahre-medica-zenica-es-liegt-noch-viel-arbeit-vor-uns.html erfahren und mich weiter vorgetastet, viel gelesen, recherchiert und jetzt, endlich, mit Selma einer Frau, die sich nicht hat brechen lassen, eine Stimme gegeben. Auch die Theres-Geschichte fußt auf Begegnungen und Gesprächen mit Betroffenen und beschäftigt mich schon lange. Ich habe wenig zum Thema „abgebende Mütter“, das immer noch ein Tabu zu sein scheint, gefunden, dafür umso mehr an Vorurteilen. Ein guter Grund, es aufzugreifen und eine Geschichte daraus zu machen.
(Nachtrag zum Thema: https://de.wikipedia.org/wiki/Medica_mondiale)
Das heißt, das Buch ist eine lang gehegte Idee? Ist es denn so, dass man dann als Autorin schon Charaktere, Wendungen oder gar Kapitel im Kopf hat, seit Jahren daran rumfeilt oder teilweise niedergeschrieben hat? Oder kommt dann einfach irgendwann der Zeitpunkt an dem man anfängt und sich erst dann das ganze Konzept überlegt?
Bei mir ist es so: Wenn mir ein Thema längere Zeit nachgeht, schärft das den Blick. Sie kennen das: Mit einem Mal ploppt es überall auf, wird rundherum sichtbar. Irgendwann habe ich dann den Ausgangspunkt für eine Geschichte und spiele mit Ideen, wie ich es umsetzen könnte. Dann entwickle ich die Personen. Ich muss alles über sie wissen, bis ins Detail, muss sie kennen wie mich selber. Das nimmt viel Zeit in Anspruch, ist aber ein sehr schöner Teil der Arbeit, der – wenigstens bei mir – im Wesentlichen im Kopf passiert. Im Gehen, unterwegs, in der Straßenbahn, zuhause auf dem Sofa. Ihre Biographien aufzuschreiben lenkt mich ab, kurze Notizen, wenn überhaupt, genügen. Im nächsten Schritt skizziere ich den Plot. Und dann schicke ich sie los, die Hauptdarsteller*innen und alle, die sich auf den Nebenschauplätzen tummeln. Nachdem ich mit ihnen in der Folge viel Zeit verbringen werde, muss Platz sein für Entwicklung und Überraschungen, die sich aus dem Zusammenspiel der Personen ergeben. Ich werde immer wieder auf meinen „ganz eigenen Ton“ angesprochen. Für den aktuellen Roman hab ich allerdings eine ganze Weile herumgetüftelt, was die Form des Romans und die Darstellung von Selmas Geschichte betrifft. Das funktioniert bei mir am besten, wenn ich es ausprobiere. Schreibübungen also, bis ich auf dem Punkt bin. Und dann geht es los.
Die innere Zerrissenheit der drei Frauen, Selma, Theres und Ana, zeigt sich nicht nur in den Worten, sondern auch im dem Stil, wie sie es aufgeschrieben haben. Die Kapitel sind kurz, die Erinnerungen werden nur Stückchen für Stückchen erzählt, manches nur angedeutet, manchen Erinnerungen kann man nicht trauen, vor allem bei Theres. Wie schwierig ist es, solch zerrissene Figuren zu erfinden und aufzuschreiben – und werden Sie diese jemals wieder „los“?
Die drei Frauen zu zeichnen, war nicht weiter schwierig. Menschen mit Brüchen, Ängsten, Traumata sind mir aus meiner Arbeit nahe und vertraut. Schwer zu ertragen war für mich im Zuge der Recherchen für das „Verbrechen“ die geplante, ja gezielte Grausamkeit der Übergriffe auf die Frauen im Zuge der Kriegshandlungen – und unvorstellbare Ausmaß. Das ist mir lange nachgegangen.
Die Verbrechen werden in ihrer Geschichte nur angedeutet – damit schreiben Sie gerade gegenläufig zum aktuellen Trend. Anscheinend ist es den Lesern wichtiger, die Taten detailliert geschildert zu bekommen, anstatt sich z. B. mit der Wirkung auf die Opfer zu beschäftigen. Doch auch in Ihren vorigen Romanen ging es nicht blutig zu. Wie schwierig ist es für einen Krimi außerhalb des Mainstreams Leser zu finden?
Trends kommen und gehen. Ich halte wenig davon, auf den jeweils aktuellen aufzuspringen und weitere Abziehbilder des immer Gleichen zu produzieren. Ich glaube auch, dass es das Lesepublikum irgendwann anödet – und dann wird eben der nächste Trend ausgerufen und beworben. Es geht schließlich um viel Geld. Jedes Buch ist ein Risiko, zumal, wenn man – wie ich – keine Serien schreibt und sich nicht am Mainstream orientiert. Da brauchen Sie Verleger*innen, die für ihre Sache brennen, von ihren Autor*innen überzeugt sind – und sich dementsprechend ins Zeug legen. Und, klar, Buchhändler*innen, Leser*innen mit Lust auf Neues, die immer wieder einen Blick über den Tellerrand riskieren – und ihre Entdeckungen gerne weiterempfehlen.
Also von mir gibt es natürlich eine klare Leseempfehlung an meine Blogleser. Aber Sie wissen ja, wie wir Leser sind, kaum haben wir ein tolles Buch beendet, dürstet uns nach dem Nächsten. Somit kann ich mir die Frage einfach nicht verkneifen – haben Sie schon ein nächstes Buchprojekt in Planung / in Arbeit?
Danke, das freut mich sehr. Ja, die Protagonistin begleitet mich schon seit geraumer Zeit durch den Tag, die weiteren Akteur*innen schärfe ich gerade nach. Ich sitze bereits am Schreibtisch und arbeite an den Eingangsszenen. Sie kennen mich – ich rede ungern über ungelegte Eier. Also nur soviel: Rita unterscheidet sich in einigem von den Frauen aus meinen vorangegangenen Büchern und ich freue mich schon auf die Zeit mit ihr. Lassen Sie sich überraschen.