
Sam Millar konnte mich mit seinem Privatdetektiv Karl Kane schon zweimal überzeugen – brutal, grotesk und noir. Der dritte Teil harrt noch in meinem SUB aus. Auch sein erstes Buch „True Crime“, welches auf dem schon 2003 erschienenen „On the Brinks“ basiert und in meiner vorliegenden Version erweitert wurde, ließ sich dort lange finden. Viel zu lange. Dabei ist „True Crime“ gar kein Krimi, obwohl es sich schon so liest. Das Buch erzählt Sam Millars Leben, ein Leben wie ein Krimi. Ungewöhnlich, kriminell und mit viel Leid.
Sam Millars Leben war mehr als bewegt. Die psychisch kranke Mutter verschwindet als er 8 Jahre alt ist, sein Vater macht ihm das Leben nicht gerade einfach. Mit 15 verlässt er die Schule und arbeitet in einem Schlachthaus. Als er, gemeinsam mit seinem Bruder, in Derry den Bloody Sunday erlebt, bei welchem 13 friedliche Protestierende erschossen werden, schließt er sich der IRA an. Er wird verhaftet, verbringt drei Jahre in Haft und wird im selben Jahr, in dem er freigelassen wird, wieder verhaftet. Während dieser Haftstrafe schließt er sich dem Protest der Blanket Men an. Die Gefangenen weigern sich, die Gefängnisuniform zu tragen und Gefängnisarbeit zu leisten, später treten sie in den Hungerstreik. Die Protestaktion ist gepflastert von Demütigungen, Schlägen und Übergriffen aber auch Entzug jeglicher menschlicher Zugeständnisse von Seiten der Wärter: kein Kontakt nach außen, keine Betten, kaum Essen, irgendwann mal auch keine Decke und kein Toiletteneimer mehr. Nach seiner Entlassung kehrt Millar Nordirland den Rücken und reist in die USA. In New York arbeitet er als Croupier und Box Manager in illegalen Casinos bevor er einen Comicladen eröffnet. Ach ja, und er inszeniert einen der größten Raubüberfälle der Geschichte der Menschheit: 7,4 Millionen Dollar raubt er mit seinen Partnern der Werttransportfirma Brink’s.
Man redet ja oft davon, dass ein Buch ungewöhnlich ist, wenn es eben vom üblichen Schema abweicht. Nichtsdestotrotz möchte ich das Wort hier benutzen ohne es abzunutzen. Krimi ja, aber irgendwie auch doch nicht. Eine Lebensgeschichte, aber eben kriminell. Ah, ich lass das mit der Einordnung mal – es ist sowieso spannender, wenn sich die Grenzen verwischen.
Das Buch teilt sich in zwei Teile auf – in Belfast und in New York. Ganz entgegen meiner Annahme, dass sich der Belfaster Teil um Millars IRA Aktivitäten und der New Yorker Teil um den Plan des Raubüberfalls dreht, hat der Autor mich hier überrascht. Nach einer Einführung in Millars Jugend geht die Radikalisierung in wenigen Seiten vonstatten und ist auch eher nebensächlich. Der Großteil des Belfaster Anteils, dreht sich um seine Gefängnisaufenthalte. Man könnte sich nun denken, dass dies mitunter langweilig wird, schließlich sieht der Gefängnisalltag eher eintönig aus, doch Millars Gefängnisaufenthalt liest sich überaus interessant, aber auch verstörend. Dies ist natürlich auch der Tatsache geschuldet, dass er sich den Blanket Men anschließt.
„Die Wärter, in einem weiteren Versuch, unseren Widerstand zu brechen, hatten die Fenster von außen vernagelt, sodass weder Licht noch Luft hereinkamen. […] Damit der Gestank von Pisse und Scheiße noch schlimmer wurde, hatten sie die Heizungen bis zum Anschlag aufgedreht. Man wollte sich die Haut aufkratzen und die Haare ausreißen, während die Zelle sich in einen Backofen und Sarg verwandelte und immer kleiner und heißer zu werden schien.“ (S. 121)
Dabei geht er gar nicht so ins Detail über die physische und psychische Folter, nichtsdestotrotz ist es überraschend, wie viele Möglichkeiten die Wärter, der Gefängnisdirektor oder die Regierung sich ausdenken, um den Männern den Widerstand auszutreiben. Standhaftigkeit ist eine Eigenschaft, die diese Männer hier brauchen, aber sie haben auch die Genugtuung, dass sie eh nichts mehr zu verlieren haben. Nimmt man einem Menschen nicht nur Kleidung, Essen und jeglichen Kontakt zu anderen Menschen, sondern auch Würde, Anstand und das letzte Bisschen Freundlichkeit, hat man nun auch mal nichts mehr zu verlieren. Eindrucksvoll. Anders kann man es nicht beschreiben. Mit klopfendem Herzen und mit mehrmaligen Schlucken, um die aufkommenden Tränen vor Wut zurückzutreiben, liest man diese Passagen.
„Mit jedem der darauffolgenden Umzüge kam eine neue Brutalität hinzu: Haareziehen, Ohrfeigen, Schläge in die Nieren, Tritte in die Genitalien, Analuntersuchungen, Ins-Gesicht-Spucken. Die Wärter hatten eine carte blance der britischen Regierung, die Foltern du jour durchzuführen, und kamen der Aufgabe mit dem größten Vergnügen nach.“ (S. 125)
Als Millar dann das Gefängnis verlässt und wieder in Freiheit ist, landet er in New York. Und man wünscht ihm nun ein ruhiges Leben, einen gesicherten Job und eine Familie. Während die Familie, seine Frau Bernadette und seine drei (später vier) Kinder wieder eher eine Nebensächlichkeit sind, denkt man, mit dem Job im Casino hat er jetzt wenigstens einen festen Job im Leben und Rückhalt. Ja gut, Casinos sind dort illegal. Aber na ja, da sehen wir mal locker drüber weg. Doch irgendwas piesackt Millar, er kommt nicht davon weg. In seinem Kopf wächst ein Plan, wie er Millionen von Dollar bei Brink’s klauen kann. Und er tut es. Wieder „enttäuscht“ Millar meine Erwartungen, denn nicht die Planung ist im Fokus im zweiten, New Yorker Teil, sondern seine Verhaftung und die Verteidigung durch seinen Anwalt.
Fast ein wenig unglaublich, wie Millar einen Krimi über sein Leben schreibt, sein Leben in einen Krimi verwandelt, ohne die kriminellen Taten zu beschreiben. Selbstschutz? Schutz vor Verfolgung, Verhaftung? Egal wie, aber die kriminellen Elemente in seinem Leben geraten zu Nebensächlichkeiten, waren ihm nicht wichtig, nicht oder eben fast nicht erwähnenswert. Und trotzdem gelingt ihm eine unheimlich spannende Geschichte, bei der man sich unwillkürlich ständig fragen muss: Und das ist sein Leben? Wirklich? Kann das alles so geschehen sein? Ich gestehe ihm natürlich künstlerische Freiheit zu, doch zu den Eckpunkten seines Lebens finden sich Artikel, Meldungen und Internetseiten. Man muss nur ein wenig stöbern und dann darf man wieder den Kopf schütteln. Ich bin ein großer Fan realistisch geschriebener Krimis, doch muss wahrlich anerkennen, dass auch das Leben große Kriminalgeschichten hervorbringt. Und Sam Millar ist eine davon.
Fazit:
Ein Leben wie ein Krimi: Sam Millar schreibt seine Lebensgeschichte auf und lässt dabei seine kriminellen Machenschaften zu Nebensächlichkeiten werden. Trotzdem gelingt ihm damit eine der spannendsten und diesmal wirklich realen Geschichten. Brillant!

Sam Millar – True Crime
Verlag: Atrium
Übersetzer: Joachim Körber
411 Seiten
ISBN: 978-3855355136
Die Karl Kane Reihe:
Die Bestien von Belfast
Die satten Toten
Die kalte Kralle
Weitere Stimmen zum Buch:
Gesakram meint: „Fazit. Unbedingt lesen, wenn man keine schwere Kost scheut und sich wirklich beeindrucken lassen möchte.“
Renie’s Lesetagebuch meint: „Er kombiniert Nüchternheit, die in der Darstellung nichts beschönigt mit Humor und Sarkasmus. Dieses Buch ist einzigartig. Nichts in diesem Buch ist erfunden. Alles hat so stattgefunden. Und man stellt fest, dass nur das echte Leben die spannendsten Geschichten schreiben kann.“