Die dunklen Felle

Krimis, Thriller und Science Fiction


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Memoria – Zoё Beck

Zoё Beck – Memoria, Suhrkamp Verlag, 281 Seiten, ISBN: 978-3518472927

Harriet lebt als Klavierstimmerin in Frankfurt. Viel verdient man damit nicht, sie ist nahe am Existenzminimum. Auf dem Weg zu einem Auftrag, muss der Zug stoppen, da ein Waldbrand gefährlich nahe an die Gleise herankommt. Als der Zug stoppen und alle Passagiere aussteigen müssen, geschieht es, dass Harriet, gemeinsam mit zwei weiteren Passagieren, eine alte Frau aus einem nahe gelegenen Haus rettet, bevor dieses vom Feuer verschlungen wird. Eine folgenschwere Begegnung, denn diese alte Frau scheint Harriet zu kennen und weckt Erinnerungen in ihr, die Harriet selbst noch gar nicht kannte.

Dass die Autorin Spannung und Science Fiction kombinieren kann, hat sie schon in „Die Lieferantin“ und „Paradise City“ bewiesen. Auch der vorliegende Krimi spielt in der Zukunft, allerdings nicht sehr weit in der Zukunft. Auch spielt die Zukunft keine wesentliche Rolle, sondern ist einfach der Hintergrund, in den die Geschichte gebettet ist. Aus meiner Sicht, liefert dies der Autorin die Möglichkeit, ihre Geschichte freier zu gestalten und ein paar Kniffe mit zukünftigen Möglichkeiten zu erklären. Auch für die Auflösung der Geschichte spielt es eine wichtige Rolle. Dennoch spielt „die Zukunft“ keine Hauptrolle, aber ergänzt die Geschichte gekonnt.

Denn der ganz klare Fokus der Geschichte liegt diesmal auf den Erinnerungen, worauf der Titel des Buches natürlich auch hinweist. Harriet muss im Laufe der Geschichte mehrfach an ihren Erinnerungen zweifeln, bzw. versuchen ihre Erinnerungen mit Fakten, die nicht dazu passen, abzugleichen. Gemeinsam mit der Protagonistin steht man als Leser immer wieder vor den Fragen: kann man den eigenen Erinnerungen trauen? Inwieweit verändern wir Erinnerungen im Laufe der Zeit? Stimmen unsere Erinnerungen wirklich eins zu eins mit den Geschehnissen von damals überein  – verändern, verzerren wir diese mit der Zeit nicht einfach? Ein wenig so, wie es uns passt, so wie wir uns erinnern wollen. Als Leser muss man sich zusätzlich noch fragen: kann man Harriet denn eigentlich trauen? Eine unzuverlässige Erzählerin erzeugt ja immer eine ganz besondere Situation für den Leser, denn schließlich könnte, aber muss eben nicht alles stimmen, was Harriet denkt, fühlt, erlebt. Und dies eröffnet dem Leser unzählige Möglichkeiten sich den weiteren Verlauf der Geschichte vorzustellen.

Harriet selbst ist eher zu bedauern. Der Vater lebt dement in einem Heim, allerdings in einem hervorragendem. Bezahlt aus dem Erbe von Harriets Mutter, die ihr nichts hinterlassen hat. Als Klavierstimmerin hat sie nun auch nicht den gefragtesten Job und lebt von der Hand in den Mund, hält sich mit einem anderen Job über Wasser. Sie hat weitgehend mit der ungerechten Behandlung durch ihre Mutter abgeschlossen, doch die Ereignisse rütteln an dieser geschlossenen Tür und zwingen Harriet, sich zu erinnern und sich mit ihrer Vergangenheit zu befassen. Auf der einen Seite ist das Glück, denn dadurch ergreift sie Initiative und wird zu einer viel sympathischeren Protagonistin, als die graue Maus, als die man sie am Anfang des Buches kennen lernt. Auf der anderen Seite muss sie sich jetzt aber eben mit ihrer Vergangenheit auseinander setzen.

Ich fand das Buch äußerst spannend, soghaft und wirklich faszinierend. Ich habe es auf einen Rutsch, an einem Tag, weggelesen. Vielleicht weil dieser Sog so riesig und einnehmend war, war ich fast schon ein wenig vom Ende enttäuscht. Ein klein wenig, denn auch wenn die verschütteten Erinnerungen trickreich aufgelöst werden, ist der Auslöser – fast – schon banal. Ist er natürlich nicht, nur im Vergleich zum irrsinnigen Spannungsbogen davor, der sich bei mir aufgebaut hat. Ich bin sehr zufrieden mit der Lektüre, denn ich hätte mir keinen spannenderen Tag wünschen können und ich muss auch immer wieder feststellen, dass ich die Einbindung der Zukunft, ohne sie explizit hervorzuheben, sehr gerne mag. Ganz nach dem Motto: Show, don’t tell.
Spannung, Zukunft, Ungewissheit – was will man mehr? Alles in einem, perfekt kombiniert. So geht Thriller.


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Der blonde Hund – Kerstin Ehmer

Kerstin Ehmer – Der blonde Hund, Pendragon Verlag, 458 Seiten, ISBN: 978-3865327635

Ariel Spiro ermittelt diesmal im Mordfall eines aus dem Kanal gezogenen Journalisten. Dieser schrieb für den “Völkischen Beobachter” und besuchte in Berlin die Salonrunde der Bachmanns, denen eine Pianofabrik in Berlin gehört und dementsprechend einflussreich und gern gesehen sind. Nicht nur die höheren Kreise machen Spiros Ermittlung schwierig, sondern auch die Politische Polizei, die aufgrund des Arbeitsplatzes des Mordopfers mitmischt. An seiner Seite ermittelt sein Kollege Bohlke bekannt charmant auf die Berliner Art, doch seine Frau schleppt ihn noch in ganz andere Kreise. Auch Nike, Ariels Freundin und Geliebte, wandelt auf seltsamen Pfaden und nimmt an Séancen teil, die man ihr als wissenschaftlichen Menschen gar nicht zugetraut hätte. Spiros Fall hängt fest bis ein Beweisstück auftaucht, welches den Druchbruch bedeuten könnte, doch dafür muss sich Spiro erst mal auf Reisen begeben.

In diesem Teil der Reihe scheint Ariel Spiro endlich in Berlin angekommen. Er fühlt sich nicht mehr so zerrissen und fängt an sich wohl zu fühlen, in Berlin, in seinem Job und auch in seiner Beziehung mit Nike. Seinen berlinerischen Kollegen Bohlke empfindet er nun als gute Ergänzung zu ihm und hätte es gerne, wenn sie beide sich für die neue Mordkommission bewerben. Hin und wieder ist er noch ein wenig unsicher in Bezug auf Nike, doch scheint die Beziehung nun wesentlich fester als im letzten Band und verleiht Spiro Stabilität. Es könnte also alles nicht besser laufen für Ariel Spiro, doch natürlich gibt es da noch den Mordfall.

Dieser erweist sich in der Ermittlung nicht ungewöhnlich, doch es gibt einige Begleitumstände, welche die Ermittlung spannend machen. Angefangen bei Spiros Zusammenarbeit mit den Dieben der Stadt, nicht ganz legal, aber nötig um endlich den richtigen Ansatz für die Ermittlung zu finden; über die Befragungen in den höheren Kreisen und die Einmischung der Politischen Polizei, bis hin zu Spiros Reise. Ja, Spiro ermittelt diesmal nicht nur in Berlin, sondern begibt sich – wieder nicht ganz legal – auf eine recht abenteuerliche Dienstreise, bei der er viel Glück hat und einen passenden Reisekumpan und mehr Landleben als erwartet bekommt.

Durch die drohenden Schatten der Machtergreifung der Nazis verliert das Setting in Berlin in den Goldenen Zwanzigern seine Leichtigkeit. Ja, diese ist noch einige Jahre entfernt, doch gerade Spiros Ermittlungen führen in Kreise, die kein Blatt vor den Mund nehmen und ihre antisemitische und nationale Gesinnung stolz äußern. Zwar hört sich Spiro dies nur mit Befremden an, doch er widerspricht nicht, hauptsächlich um die Ermittlungen voranzutreiben und keine Zeugen zu vergrätzen. Zugleich denkt er aber auch, dass diese nationalen Tendenzen nur Ausnahmen sind und sich keinesfalls festigen bzw. dem allgemeinen Tenor entsprechen. Als Leser empfindet man ein natürliches Befremden, weiß man doch wohin das führt. Zusätzlich finde ich es sehr sehr schade, dass der Zauber der Zwanziger nach und nach verloren geht, aber natürlich war das zu erwarten. Hier offenbart auch Spiros Reise Einblicke, denn seien wir mal ehrlich – golden waren die Zwanziger wohl hauptsächlich in den Großstädten und für die, die es sich leisten konnten. Ein wenig Wehmut bleibt, aber ich bin wirklich sehr gespannt, wie sich die nächsten Teile der Reihe entwickeln und wie Ariel Spiro, der ja aufgrund seines Namen desöfteren für einen Juden gehalten wird, sich in diesen Zeiten zurecht finden wird.

Fazit:
Beeindruckend gelingt es der Autorin die Widersprüche der Goldenen Zwanziger mit den beginnenden Verzweigungen des Nationalsozialismuses, den Gegensatz Stadt- zu Landleben und die unterschiedlichsten Strömungen der Zeit unter einen Hut zu bringen. In dieser wilden Zeit ermittelt Kommissar Ariel Spiro gekonnt und nicht ganz legal in einem verzwickten, aber nicht unmöglichen Fall. Ein wunderbares Leseerlebnis, welches Lust auf mehr macht!


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Shorty | 617 Grad Celsius – Horst Eckert


Horst Eckert – 617 Grad Celsius
Verlag: Grafit Verlag
316 Seiten
ISBN: 978-3894252977

 

 

 

 

 

Worum geht es?
Anna Winkler kehrt nach einem Jahr im Polizei-Austauschprogramm in Bosnien wieder nach Hause zurück. Dort wird sie gleich zur Bereitschaft in der Mordkommission eingeteilt und ist die Glückliche, die mitten in der Nacht zu einem Einsatz gerufen wird: ein Haus ist explodiert. Anfangs noch glimpflich eingestuft, da das Haus gerade leer und im Umbau war, werden nach und nach die Leichen der illegalen ausländischen Bauarbeiter, die dort übernachtet haben, in der Ruine gefunden. Als dann auch noch die Leiche eines Kunstprofessors gefunden wird, ist Annas Expertise gefragt. Anna muss allerdings in dieser Ermittlung einiges schlucken, denn der Fall scheint eine Verbindung in ihre Vergangenheit aber auch in die Vergangenheit ihres Vaters zu haben.

Einer wie der andere?
Hmm…. Ich bin erst durch “Wolfsspinne” auf Horst Eckert aufmerksam geworden und nachdem ich nun die neueren Krimis alle durch habe, bin ich jetzt scharf auf die Backlist des Autors, unter anderem eben diesen hier. Ich glaube, der vorliegende Teil ist keine Serie, doch das Kommissariat und einige der Kollegen kommen mir doch sehr bekannt vor, denn auch bei Veih gibt es z. B. Ela Bach. Der Fall ist aber auf jeden Fall ohne Vorkenntnisee weiterer Krimis von Herrn Eckert zu lesen.

Opfer, Tat und Täter
Die toten Bauarbeiter sind tatsächlich nur Nebensache – irgendwie erschreckend. Der Fall dreht sich um den Kunstprofessor, und zwei weitere Menschen, die tot sind, einer schon länger, einer noch nicht so lange. Der Täter kam für mich überraschend, ich habe wirklich lange Zeit gedacht, dass… nun ja.

Themen
Horst Eckert hat hier wirklich viele Themen untergebracht: Politik und Kohle, Vetternwirtschaft und schwarze Konten, Homophobie und zu viel guten Willen, Beeinflussung und Korruption. Aber letztendlich geht es nur um eins: Macht und Machterhalt.

Was war gut?
Diese vielen Themen hat Horst Eckert in ein weitreichendes Geflecht verpackt, so dass Anna an vielen Ecken ziehen muss, um es aufzudröseln. Spannend, wie dann ein zweiter, eigentlich abgeschlossener Fall auftaucht und Verbindungen zum aktuellen Fall haben. Gut gefallen hat mir auch, dass Anna nicht unfehlbar ist, sondern selbst aufgrund Fehlverhalten suspendiert wird – verdient, aber natürlich lässt sie sich dadurch nur bedingt vom Ermitteln im aktuellen Fall abhalten. Eine Ermittlung, die sie sauber aufdröselt, die aber ganz nebenbei ihr Leben von Grund auf verändert. Puh, großes Kino.

Was war schlecht?
Am Anfang bin ich ein wenig mit den verschiedenen Zeitebenen durcheinander gekommen. Zwar werden die Jahreszahlen am Anfang immer genannt, aber bis ich mal alle Beteiligten drauf hatte und wie sie in welchem Zeitabschnitt verbandelt sind… ein wenig hat es gedauert, aber nicht lange. Zumal die Ausflüge in die Vergangenheit nach und nach weniger werden und der Sog der aktuellen Ermittlung zunimmt.

FAZIT:
Eine wirklich gute Entscheidung, in die Backlist von Horst Eckert reinzulesen – das kann ich nur jedem empfehlen!


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All-in-One: Der wunde Himmel – Jeannette Oertel


Jeannette Oertel – Der wunde Himmel
Verlag: Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke
506 Seiten
ISBN: 978-3887694753

 

 

 

Für mich war es auf jeden Fall ein Wagnis, dieses Buch, welches mir von der Autorin angeboten wurde, zu lesen. Neugierig gemacht haben mich der Klappentext, aber auch die Tatsache, dass der Roman im Konkursbuch Verlag erschienen ist. Und hier habe ich ja erst vor Kurzem sehr gute Erfahrungen mit den Spannungsromanen von Regina Nössler gesammelt. Skeptisch war ich aufgrund der Amour fou, die zusätzlich zu Spannungselementen, einer DDR-Vergangenheit und der Arbeit an einer (fiktiven) arabischen Botschaft in unruhigen Zeiten, eingeflochten ist. Ob es sich nun gelohnt hat, seht ihr gleich, doch auf jeden Fall war es die richtige Entscheidung, mich in dieses Abenteuer zu stürzen.

Tabea Blum beginnt ihren neuen Job als Assistentin des elydischen Botschafters. Nicht nur in Deutschland herrschen unruhige Zeiten, sondern auch in Elydien, wo Staatschef Aladily einem Diktator gleich agiert. Und Tabea verliebt sich, in Rayan, den Sicherheitschef der Botschaft. Die Affäre ist nicht das einzige, was ihren Posten in der Botschaft gefährdet. Hinzu kommen politische Beziehungen, ein undurchsichtiges Beziehungsgeflecht der einzelnen Botschaftsmitglieder und viele Andeutungen. Es entsteht eine faszinierend angespannte Situation, die sich komplett durch das Buch trägt, mit nur wenigen Spitzen, aber eben auch nie abbricht. Besonders erwähnenswert ist hier der Botschaftsmitarbieter Jan von Kessel, einer derjenigen, die Tabeas Vater damals in der DDR, in Bedrängnis gebracht haben. Hier erfolgen Rückblicke in die DDR Vergangenheit, aber auch der “heutige” von Kessel sorgt für Bedrohungen.

Die Geschichte selbst spielt in einer sehr nahen Zukunft, vieles bleibt nur angedeutet, doch die politische Stimmung in Deutschland ist noch mehr aufgeheizt als heute. Zusätzlich formt sich Protest gegenüber dem diktatorisch geführten Elydien. Die Botschaft ist oft Schauplatz von Demonstrationen, das Regierungsviertel oft aufgrund gefährlicher Sicherheitslagen geräumt und das Viertel per se abends tot und verlassen. Als Leser folgt man Tabea durch dunkle einsame Gassen, aber auch zu glamourösen Anlassen, wo sich das Who-is-Who der politischen Prominenz trifft und im Hinterzimmer dubiose Absprachen trifft. Es geht um Freiheit, Krieg, Macht und Waffen, ernste Themen, bei denen sich jeder Bürger wünscht, dass diese eben nicht in Hinterzimmerdeals über die Bühne gehen würden.

Die Protagonistin, Tabea Blum, empfand ich jedoch oft als naiv und unerfahren. Dagegen sprechen allerdings die Fakten, die man nach und nach über sie herausfindet. Aufgewachsen in der DDR, 10 Jahre Berufserfahrung in einer Kanzlei, unzählige Reisen durch die verschiedensten Länder, und trotzdem kam mir Tabea Blum wie Anfang 20 vor. Nichtsdestotrotz passt sie damit hervorragend in diese spannungsgeladene, unheimliche Situation. Die Autorin schafft es sogar, sie zeitweise zur unzuverlässigen Erzählerin werden zu lassen, so dass man selbst an allen Geschehnissen zweifelt und sie als Spinnerin abtut.

Zugegeben, die Amour Fou, die Liebesgeschichte zwischen Tabea und Rayan, hat es mir nicht einfach gemacht. Ich bin einfach kein großer Fan von Liebesgeschichten und wünsche mir immer einen Fokus auf die Krimihandlung. Hin und wieder war ich hier auch ein wenig ungeduldig, bis die Szenen der leidenschaftlichen Liebe vorbei waren und es wieder – für mich – spannender wurde. Einem Leser, der nicht so fokussiert auf Krimis ist und querbeet liest, stört das aber vermutlich gar nicht. Auch finde ich die Liebesgeschichte zwischen den beiden einigermaßen stimmig, nur für mich hätte sie ein wenig geraffter sein können. Ich bin auch kein Fan einer Amour fou, habe ich gemerkt, denn, dass Tabea sich so sehr unterordnet, fast selbst aufgibt, und ohne sich Gedanken zu machen, auf eine Affäre am Arbeitsplatz mit einem verheirateten Mann einlässt, gefällt mir nicht besonders. Aber alles persönlicher Geschmack. Der spannenden Story drumherum tut das aber keinen Abbruch.

Insgesamt ist der Spannungsroman eine wilde Mischung, ein Potpourri an verschiedensten Themen, die erstaunlich gut ineinander greifen und die Spannung immer unterschwellig vorantreiben. Amour Fou, ja, aber eben auch Krimi, Spannungsroman, Thriller und Spionageroman, die Geschichte hat politische Brisanz und zeigt ein düsteres, sehr nahes Zukunftsszenario, gespickt mit Rückblicken in die Vergangenheit der DDR. Für mich ein lohnenswerter Ausflug, raus aus meiner persönlichen Komfortzone.


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Quick & Dirty 1/2019

Der Steingänger – Davide LongoDerSteingänger

Rowohlt, Übersetzerin: Suse Vetterlein, ISBN: 978-3499290398

Worum geht es?
Cesare findet seinen alten Freund Fausto, mit dem er früher Flüchtlinge über die Berge nach Frankreich gebracht hat, ermordet in einem Gebirgsbach. Der Franzose – wie Cesare von seinen italienischen Mitbürgern genannt wird – ist verdächtigt, doch hängt Faustos Ermordung wirklich mit seinen Tätigkeiten als Schlepper und neuerdings Drogenkurier zusammen?

Wie war es?
Literarisch so stimmungsvoll kann nur einer schreiben – Davide Longo. Auch sein Debütroman konnte mich nun voll überzeugen, wobei die Kriminalgeschichte fast schon nebensächlich ist. Ich verliebe mich immer in diese stille, abgeschiedene Atmosphäre, die er mit seinen Worten zaubern kann. Aber natürlich ist auch die Kriminalgeschichte nicht zu verachten, denn dahinter steckt mehr – oder eigentlich weniger – als man denkt.

 


Das Meer – Wolfram Fleischhauer56008124n

Droemer-Knaur, ISBN: 978-3426307076

Worum geht es?
Ökoterroristen gegen Fischereimafia.
Eine Fischereibeobachterin der EU geht über Bord, vereinzelte Fischvergiftungen treten in Europa auf, eine Tochter wird gesucht und ein Dolmetscher hat keine Ahnung worum es eigentlich geht.

Wie war es?
Thematisch war der Ökothriller ein absolutes Highlight. Man muss echt schlucken bei den Greueltaten, welche die Fischereimafia bewusst, die Bevölkerung unbewusst durch ihre Nachfrage nach Fisch, den Meerestieren und dem Ökosystem Meer antun. Ich nehme mich hier nicht raus, ich esse zwar nicht viel Fisch, aber nur weil ich ihn nicht sehr mag. Die Empfehlung von Ärzten, zweimal die Woche mindestens Fisch zu essen, sollte man sich nach dem Buch nochmal gründlich überlegen.
Für einen Thriller hätte das Buch aber ein wenig mehr Spannung vertragen können, doch das größere Problem hatte ich mit der Auswahl der Protagonisten. Denn hier sind mal wieder die alten, weißen Männer ganz vorne, die beiden weiblichen Protagonistinnen bekommen nur wenig Chance ihre Gedanken mitzuteilen. Wer weiß, vielleicht bewusst gewählt, denn man sieht nicht nur die klaffende Lücke zwischen den Generationen sondern auch zwischen den Geschlechtern, eingeschnürt in Paragraphen und Sitzungen der EU, die zwar Gutes wollen, aber nur wenig ausrichten können oder wollen. Der Dolmetscher, der dem Autor am nächsten liegt, was man aus dem Nachwort erfährt, war der unbeteiligste Charakter, denn über 90% des Romanes weiß er gar nicht, worum es geht und als er es dann erfährt, interessiert es ihn auch nicht so richtig.
Ach, ich weiß nicht, wie gesagt, thematisch war es wirklich gut, aber die Umsetzung war nun nicht so meins.


Sick City – Tony O’Neill51xUrKIPg+L._SX314_BO1,204,203,200_

Heyne Hardcore, Übersetzer: Stephan Pörtner, ISBN: 978-3453676237

Worum geht es?
Als Jeffreys Gönner nachts im Bett stirbt, beschließt er, eine Entziehungskur zu machen. Dabei trifft er Randal, ebenfalls drogenabhängig, aber auch reich und mit dem Filmgeschäft verbandelt. Das trifft sich gut, hat Jeffrey doch von seinem Gönner ein geheimes Sex-Tape „geerbt“, welches er zu Geld machen will. Zwei Junkies, ein legendäres Video und L.A. – da kann doch nichts schief gehen, oder?

Wie war es?
Zwei Junkies, ein Dealer, ein Killer und eine Stripperin, die alleine nichts hinkriegt. Schon das Ensemble in diesem abgefahrenen Krimi hat es in sich. Sprachlich zwar nicht der Bringer, dafür aber sehr authentisch rast man durch das Buch und sieht die Wand auf sich zukommen bzw. die Protagonisten Fahrt aufnehmen und in ihr Unglück rasen. Sehr viele Drogen, sehr viele Arten Drogen zu nehmen, Gossensprache und nicht das beste Personal und trotzdem eine Wucht. Ein irrer Trip, den man sich nicht entgehen lassen sollte.


Exodus aus Libyen – Tito Topin41JK-qwbcBL._SX301_BO1,204,203,200_

DistelLiteraturVerlag, Übersetzerin: Katarina Grän, ISBN: 978-3923208906

Worum geht es?
Acht völlig unterschiedliche Menschen – Geschlecht, Religion, sozialer Status – machen sich auf den Weg von Tripolis nach Tunesien. Der Jeep schafft es kaum aus der Stadt, bevor er in einem kleinen Ort strandet, der unter der Knute des Militärs steht, zurückerobert von den Rebellen. Wer bzw. wie viele werden Tunesien erreichen?

Wie war es?
Unheimlich erschreckend. Acht Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, alle einzeln vorgestellt in Kapiteln eingeworfen zwischen den Kapiteln ihrer unmöglich scheinenden Reise. Jeder mit eigenen Motiven, mit einer Hintergrundgeschichte, müssen sie sich doch irgendwie arrangieren, zusammenbleiben, füreinander einstehen. In einem Land zerrissen zwischen den Schergen des Machthabers, dem „Pourriture“ (dem Korrupten/Verderbten (Gaddafi)), und den Rebellen, ein zerstörtes Land, mit Toten, mit Hungernden, mit Flüchtlingen, klapperdürren Hunden und der ständigen Angst zu sterben. Bei dieser Lektüre muss man schwer schlucken, aber es ist so wichtig, sie zu lesen, um zumindest ein wenig zu verstehen, welche Schrecken auf der Welt vorgehen, derweil wir in unseren sicheren Häusern sitzen, keinen Hunger leiden, uns nicht vor Kampfflugzeugen verstecken müssen. Unbedingt lesen!

 


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En Mann un en Kou: Müllers Morde – Monika Geier

1200x
Monika Geier – Müllers Morde
Verlag: Argument
394 Seiten
ISBN: 978-3867542005

 

 

 

Hier wimmelt es von Männern: große, starke Männer mit zwei Meter Körpergröße, Ökomänner und linke Männer, reiche Männer mit einem Hang zu anderen Männern, toten Männern (aber auch Frauen) und ignoranten Polizistenmännern sowie mörderischen Männern. Alle Arten von Mann vorhanden – aber so ganz konnte die Autorin doch nicht auf die EINE verzichten. So wie es auch Christine Lehmann in „Die Affen von Cannstatt“ mit Lisa Nerz ging, so konnte auch Monika Geier nicht auf ihre Figur Bettina Boll verzichten und lässt diese am Ende doch noch ein wenig mitmischen. Trotz „Jungsbuch“. Gut so – denn den Kommissar in dem Buch hatte ich nämlich schon bald über.

Rick Romanoff, halb-arbeitsloser Historiker, der während des Semesters Vorträge über Karl den Großen hält und sich in der semesterfreien Zeit als actionfreier Indiana Jones verdingt, bekommt von seinem Hauptauftraggeber eine andere Art Auftrag zugeschanzt. Gunter Steenbergen, Energiemanager bei ENERGIEbase, einem Energiekonzern, wurde tot am Totenmaar aufgefunden. Laut Polizeibericht ein Unfall. Durch den Vulkansee aufsteigendes Kohlendioxid soll ihm sowie einer Kuh den Garaus gemacht haben. Anwalt Welsch-Ruinart kann das nicht glauben – persönliche Gefühle spielen hier allerdings auch eine große Rolle – und engagiert Rick zur Privatermittlung. Nicht sehr begeistert, aber weil eben keine andere Arbeit in Sicht, macht sich der ewige Student auf, um in „Gunnis“ Leben herumzustochern. So unrecht hat der schnöselige Anwalt nicht, denn Steenbergen geht auf Müllers Konto. Müller – dessen eigentlichen Namen wir Leser nie erfahren – arbeitet bei ENERGIEbase und hat Steenbergen auf dem Gewissen. Romanoffs Schnüffeleien bringen Müller in arge Bedrängnis und zwingen ihn zu handeln. Ein Katz und Maus Spiel entsteht, in dem einer mehr weiß als der andere und mit unfairen Mitteln gekämpft wird.

Die Geschichte wird abwechselnd aus Sicht von Rick Romanoff und von Müller erzählt, ab und an auch noch von anderen Personen. Der stetige Wechsel zwischen Romanoff und Müller, die man allerdings sehr gut auseinander halten konnte, unterstützt dieses Katz und Maus Spiel und befeuert die Spannung. Und auch wenn der titelgebende Müller hier sehr ausführlich mit seinen Machenschaften beschrieben ist und viel Fläche zur Entfaltung bekommt, ist natürlich Rick Romanoff der Sympathieträger. Nicht nur als übrig gebliebener Student in der WG, sondern auch mit seinen zwei Metern Größe, seiner Panik vor dem schwulen Anwalt und einer Fast-Phobie vor Atlantis-Anhängern ist er eine bemerkenswerte Erscheinung. Nicht auf den Kopf gefallen, aber mit dem Fall ein wenig überfordert, ist sein Helfer Fred nun auch nicht unbedingt besser, auch wenn der technisches Know-How mitbringt.

Müller, mit vielen Talenten gesegnet wie z. B. dem Hacken von Computern, muss als Romanoff sich einmischt doch recht häufig improvisieren. Dass dies klappt, verdankt er hauptsächlich Rick Romanoffs Unbescholtenheit, auch wenn Müller sich durchaus findig zeigt. Inszeniert er Steenbergens Tod – der im Übrigen nur auf einem Verdachtsmoment basiert und eigenmächtig ausgeführt wird – noch wie einen skurrilen Unfall, muss er bei den weiteren Morden mächtig in die Trickkiste greifen. Mag man am Anfang noch denken, der Müller ist halt so einer. So ein Psychopath. Dann mag man nicht ganz Unrecht haben, doch letztendlich verschleiert er eine wirtschaftliche Gaunerei größeren Ausmaßes.

Müller als Täter war jetzt nicht ganz so mein Fall, Romanoff als Held der Geschichte schon eher. Ich hatte immer ein Bild von Indiana Jones vor Augen, auch wenn man wirklich erwähnen muss, dass Romanoff schon viel mehr Dozent als Abenteurer ist, also fast ausschließlich, und außerdem ja zwei Meter groß. Das Ende, obwohl oder gerade weil es in wenigen Teilen offen bzw. unbestimmt ist, hat mir außerordentlich gut gefallen. Wenn ich nun mit der Bettina Boll Serie einen Vergleich ziehen sollte, muss ich sagen, dass ich die Serie bevorzuge, doch Rick Romanoff und der Fall Steenbergen waren auf jeden Fall einen Ausflug wert.

Fazit:
Indiana Jones und der Serienmörder – oder wie Müller und Rick Romanoff eine skurrilen Tanz um den Fall Steenbergen aufführen, bis zum bitteren Ende. Gelungener Ausflug außerhalb der Bettina-Boll-Reihe der Autorin, auch wenn auf diese nicht ganz verzichtet wird.


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Geheimnisse: Die Putzhilfe – Regina Nössler


Regina Nössler – Die Putzhilfe
Verlag: Konkursbuch
401 Seiten
ISBN: 978-3887695958

 

 

 

 

Vielleicht ist es unhöflich, eine Rezension mit einem Vergleich zu beginnen, aber da ich damit meine Begeisterung zum Ausdruck bringen möchte, ist es wohl verzeihlich. Denn endlich habe ich eine Autorin gefunden, die mit Anne Goldmann vergleichbar ist. Eine Autorin, die es unheimlich gut versteht, unterschwellig Spannung aufzubauen, Dinge ungesagt zu lassen und dabei den Leser hinter das Licht zu führen, und dabei ganz still und leise einen Sog in die Geschichte einzubauen, der einen so hintergründig fies packt, dass man es erst am Ende merkt, wenn man das Buch verschlungen hat, so dass man mit Begeisterung das Buch zuklappen kann. Ja, das erinnert an Anne Goldmann, eine meiner Lieblingsautorinnen, aber die Rede soll jetzt von Regina Nössler und ihrem Krimi „Die Putzhilfe“ sein, der mich kurz gesagt, sehr begeistert hat.

Auch wenn nun schon kurz angerissen, warum die Autorin mich überzeugen konnte, hier doch noch ein wenig mehr Ausführung. In dem Krimi geht es um drei sehr unterschiedliche Frauen. Da ist zum einen Franziska Oswald, erfolgreiche Soziologin mit Doktortitel, Reihenhaus und Freund, die sich eines Nachmittags in einen Zug setzt, mit Gepäck, ohne Handy und in Berlin landet. Sie schlupft dort unter, hat jeglichen Kontakt zu ihrem vorigen Umfeld abgebrochen und haust dort in einer schmierigen Parterrewohnung und nennt sich ab sofort Marie Weber. Noch hat sie genügend Geld, doch irgendwann wird dies ausgehen, so dass sie widerwillig das zufällige Angebot von Henny Mangold annimmt, bei dieser zu putzen. Henny Mangold ist eine ältere Dame, die zwar noch im Beruf steht, ihren Mann aber vor einem Jahr verloren hat. Geschwätzig, aber sofort vertraut mit Marie, ihrer Marie. Aber auch Henny Mangold hütet ein Geheimnis, trotz ihrer Geschwätzigkeit. Und obwohl Marie/Franziska Kontakte meidet, tritt noch eine Frau, eher ein Mädchen in ihre Welt. Sina, oder auch „Fastsechzehn“ von Marie genannt, eine gelangweilte, gewalttätige Göre, die Marie als Opfer auserkoren hat.

Noch nie bin ich von einer Autorin so hinters Licht geführt worden. Die Autorin spielt so gekonnt mit den Dingen, die man als Leser vermutet, voraussetzt, und in die – von der Autorin natürlich absichtlich – eingebauten Leerstellen, einfügt. Es ist nicht so, dass die Autorin etwas verschweigt, nein, alles liest sich schlüssig und flüssig, und doch gelang es ihr, mich an der Nase herumzuführen. Vermutungen anzustellen, die ich schon bald als Feststellungen interpretierte, nur um sie mir dann von der Autorin, um die Ohren hauen zu lassen. Aber genug mit den schlechten Vergleichen und her mit einem kleinen Beispiel:  Es gibt da den Bobby. Als das erste Mal von Bobby die Rede war, war er für mich ein Hund. Doch danach bin ich ins Schwanken gekommen. Denn es stand nie da, dass Bobby ein Hund war. Und tatsächlich bin ich dann seitenlang der Meinung, dass Bobby ein geistig beeinträchtigter junger Mann ist, bevor…. Mehr verrat ich mal nicht. Aber beides ist in der ersten Hälfte des Buches möglich und schlüssig. Und das war nur ein kleines Beispiel. Die anderen verrate ich natürlich nicht.

Doch ob das Buch tatsächlich ein Thriller ist, mag mal dahin gestellt sein, kommt vermutlich auf die Definition an. In der Geschichte passiert nicht ständig etwas Dramatisches oder Actionreiches, es ist auch kein Buch welches ich als Pageturner klassifizieren würde und doch konnte ich es kaum weglegen. Es ist immer eine gewisse Grundspannung vorhanden. Schon allein dadurch, dass man als Leser weiß, dass Franziska/Marie sich versteckt und sich immer vor Aufdeckung fürchtet bleibt dies als hintergründige Schwingung durch die komplette Geschichte bestehen. Und das Ende? Ja, das hat mich kalt erwischt und da zeigt das Buch dann auch, warum es vielleicht doch ein Thriller ist. In dieser Geschichte ist kaum etwas wie es scheint, keine der Frauen ist ehrlich, sie müssen lügen, wollen lügen, schämen sich, verdrängen. Und doch ist jede anders, die drei Frauen mit ihren Geheimnissen. Und doch kommt am Ende alles heraus. Oder?

Fazit:
Subtil und unterschwellig, aber soghaft entwickelt sich diese Geschichte um drei Frauen und ihre Geheimnisse zu einem kriminellen Highlight. Sehr genial!


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Andere Einblicke: Unter Fremden – Jutta Profijt


Jutta Profijt – Unter Fremden
Verlag: dtv
336 Seiten
ISBN: 978-3423261654
(Link führt zur Taschenbuchausgabe, derweil meiner Besprechung die broschierte Ausgabe zu Grunde liegt)

 

 

 

Madiha lebt nahe einem Dorf im Flüchtlingsheim, mit Hunderten unter einem Dach, mit 8 Frauen in einem Zimmer. Von ihrem Vater allein auf die Flucht geschickt und mit Gehbehinderung war die junge Frau froh, dass Harun ihr auf ihrem Weg begegnet ist und ihr geholfen und sie beschützt hat. Nun, angekommen in Deutschland, ist er plötzlich verschwunden und Madiha fühlt sich verpflichtet dem einzigen freundlichen Menschen zu helfen und macht sich auf die Suche nach ihm. Das ist allerdings nicht jedem recht.

Madiha ist eine zurückhaltende junge Frau, die ungern redet, eher schweigt. Mit ihrer Gehbehinderung, die ihr ein Unfall beschert hat, ist sie zudem eingeschränkt und hat öfters Schmerzen, doch läuft beharrlich, um in Bewegung zu bleiben. Zu den anderen Flüchtlingen hat sie kaum Kontakt. Sie kommt aus einer als rückständig geltenden Gegend Syriens und verbrachte ihre Tage bisher lieber schweigend bei der Feldarbeit oder beim Essen kochen als nun im Flüchtlingsheim zu übersetzen. Ein Zufall wollte es, dass sie in ihrer Kindheit deutsch zu sprechen gelernt hat, lesen und schreiben kann sie aber nicht. Sie ist eine ruhige Frau, die von der Verpflichtung, die sie sich auferlegt hat, gezwungen wird, offener zu sein, Fragen zu stellen, nachzudenken.

Die deutsche Kultur ist nicht unbedingt ein Schock für Madiha, aber doch oft unverständlich. Ganz deutlich kommt das bei der – für sie – recht geschmacksneutralen deutschen Küche im Gegensatz zur syrischen Küche heraus, die mit vielen Gewürzen, Kräutern und Hammelfett arbeitet. Das Wetter macht ihr zu schaffen, die dunkle Herbstzeit, welche aber auch ich immer mal wieder bedrückend finde. Madihas Vertrauen in den deutschen Rechtsstaat oder die Polizei ist auch kaum vorhanden, kein Wunder mit den Erfahrungen, die sie in ihrem Land gesammelt hat, einem Land, dass vermutlich schon vor dem Krieg härtere Gesetze, höhere Strafen und mehr Korruption bot, aber besonders während des Krieges wohl kaum mehr Regeln hatte und jeder einfach um sein Leben fürchten musste.

Besonders beeindruckend fand ich auch die Wandlung, die Madiha im Laufe der Handlung durchmacht. Es sind immer nur kleine Schritte, unterlegt mit vielen Zweifeln, aber doch oft mit dem Ergebnis, dass sie da jetzt eben durch muss, mutig sein muss, sich etwas zutrauen muss. Sie wird jetzt kein anderer Mensch, sie wird keine Deutsche oder legt ihren Hidjab ab, aber sie wird mutiger, beginnt Dinge zu hinterfragen und löst Konflikte auf ihrem eigenen Weg. Wenn es die Höflichkeit, die sie anerzogen bekam, nicht erlaubt zu widersprechen, dann schweigt sie eben und geht. So einfach kann das manchmal sein, und doch so schwer. Ein wenig ist ihre Wandlung wohl auch der Handlung geschuldet, denn im Flüchtlingsheim kann sie ihre Suche nach Harun nicht mit Erfolg abschließen – da muss sie schon raus in die weite (deutsche) Welt.

Auch wenn die Autorin die Erlebnisse Madihas natürlich nicht mit eigenen Erfahrungen einer Flucht und dem Status einer Asylbewerberin unterfüttern kann, kann man erkennen, auch ohne anhängende Erklärung oder Literaturverzeichnis, dass hier eine fundierte Recherche statt gefunden hat und viel Empathie einfließt. Ausschlaggebend und exzellent gewählt ist hier auch der Titel “Unter Fremden”. Madiha ist ohne Familie nach Deutschland geflüchtet, lebt mit Hunderten anderen Flüchtlingen aus unterschiedlichen Ländern und unterschiedlichen Regionen unter einem Dach, und ist doch allein, fühlt sich keinem zugehörig. Doch auch außerhalb des Flüchtlingsheims ist sie eine Fremde, ihre Kleidung grenzt sie ganz deutlich ab, einerseits Versteck, auf der anderen Seite wie eine Leuchtreklame.

Eigentlich ein leiser Kriminalroman, wenn auch das hintergründige Thema sehr ernst und gefährlich ist. Aber der Fokus liegt auf Madiha, ihrer Situation und wie sie damit umgeht. Trotzdem passiert einiges, von Molotowcocktail über Hausbrand bis hin zu Entführung und Mord. Der Autorin gelingt hier ein sehr ausgeglichener Mix, ich fühlte mich nie gelangweilt, weil nun Madiha viel über ihre Kultur nachdenkt oder ähnliches, sondern ich konnte mich gut in sie hineinversetzen. Zudem war es glaubhaft, wie zaghaft und mit Zurückhaltung sie auf die Suche nach Harun geht und nicht gleich mit der Tür ins Haus fällt. Und, man mag es kaum glauben, auch wenn man vielleicht gleich eine Vermutung im Kopf hat, was mit Harun passiert ist – das Buch endet dann doch anders als man denkt.

Fazit:
Ein eindringlicher Krimi, der zwar alle Zutaten hat, die dieser eben so braucht, aber auch zusätzlich Einblick gibt in eine Frau, die nach schrecklichen Erlebnissen, in einer anderen Kultur, einem anderen Land, in der Fremde ankommt und versucht sich zurecht zu finden. Eine sehr gelungene Kombination.


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Shorty | Ist das Kunst oder…: Stein sei ewig – Monika Geier


Monika Geier – Stein sei ewig
Verlag: Argument
430 Seiten
ISBN: 978-3886198801

 

 

 

 

Worum geht es?
Bettina Boll ist angepisst. Von Härting, ihrem Chef, wird sie, gemeinsam mit Kollege Willenbacher, vom Fall eines Serienmörders abkommandiert, um, ja, um einen lausigen Kunstraub im beschaulichen Lautringen aufzuklären. Und dann werden ihr auch noch Vorhaltungen gemacht, dass sie sich um ihre beiden neuen Pflegekinder Enno und Samy kümmern muss – Männer sind solche Ärsche. Zum Glück (!) geschieht dann aber doch ein Mord, so dass Bettina Boll ermitteln kann.

Einer wie der andere?
Ja und nein. Dies ist der dritte Teil der Reihe und ich kenne nun schon die ersten beiden der Reihe, aber auch die letzten beiden. Neu ist, dass Bettina hier nun als Mutter für die Kinder ihrer verstorbenen Schwester agieren muss und versucht, alles unter einen Hut zu kriegen. Irgendwas muss wohl oder übel zu kurz kommen – ein Balanceakt, den wohl viele Mütter nachvollziehen können.

Opfer, Tat und Täter
Eine arrogante, ehrgeizige Muse stirbt, nackt und drapiert, während eines Aktzeichenkurses. Und keiner will was gesehen haben.

Themen
Es geht um Architektur und um Künstler. Und man merke sich: Architektur ist Kunst. Willenbacher kann sich als Kunstkenner hervortun, während Bettina mit Unwissen im Kunstbereich, dafür aber Ermittlungserfolgen glänzt. Der Kunstraub ist auch nur vorgeschoben, denn Boll und Willenbacher sollen einen der Künstler unter die Lupe nehmen, da man von seiner Frau seit einem halben Jahr nichts mehr gehört hat. Anweisung von ganz oben.

Was war schlecht?
Heute packe ich mal das “was war schlecht” an den Anfang, denn der Anfang war… nun, ja nicht schlecht, aber hat sich doch gezogen. Bis der Mord während des Aktzeichenkurses geschieht sind schon so 120-150 Seiten ins Land gegangen – nicht langweilig, aber vorbereitend. Figuren werden eingeführt, Bettina Boll instruiert… ja, das dauert eben und ein wenig mehr Zug hätte hier gut getan.

Was war gut?
Sobald dann der Mord geschehen ist, zieht die Spannung an und man kann einen gewohnt guten Bettina Boll Krimi lesen. Zum einen die Ermittlungen, mit dem etwas sperrigen, aber immerhin fähigen Willenbacher, immer wieder aus dem Takt gebracht durch die Anweisungen von oben, die sich letztendlich auch als falsch herausstellen, aber immerhin nicht als völlig falsch; zum anderen Bettinas Kampf mit ihrem Privatleben, einer schrecklichen Tagesmutter, einem gechillten Nachbarn und hoffentlich einer guten Idee zur “Kinderaufbewahrung” im nächsten Teil der Reihe.
Realität trifft Krimi – so sieht es eben aus, wenn man Job und Kinder unter einen Hut bringen muss. Ein Balanceakt, der einem pure Bewunderung abringt.

FAZIT:
Wenn auch mit einem etwas zähen Start versehen, ein gewohnt gelungener, spannender Bettina Boll Krimi, der Einblick in die Architekturszene gibt.


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Veränderung: Die schwarze Fee – Kerstin Ehmer


Kerstin Ehmer – Die schwarze Fee
Verlag: Pendragon
397 Seiten
ISBN: 978-3865326560

 

 

 

 

Ariel Spiro bekommt einen neuen Fall: auf einem Schiff, mitten unter den anderen Fahrgästen, am helllichten Tag, sitzt ein Toter. Keiner hat den Mann einsteigen sehen, keiner kennt ihn. Die Ermittlungen laufen schwerfällig, es gibt kaum Spuren. Dann wird ein weiterer Toter gefunden, in einem Bus. Wieder kennt ihn keiner und Spiro als auch sein Kollege Bohlke laufen sich die Hacken wund, bis endlich ein Hinweis eintrifft, dass einer der Männer russisch gesprochen hat.  Derweil sucht Nike Fromm, Tochter aus reichem Hause, Medizinstudentin und große Liebe Ariels, seine Hilfe. Nikes Freund Anton Kraftschick ist spurlos verschwunden. Der junge SPDler hat mit russischen Anarchisten geliebäugelt.

Schon im ersten Teil der Reihe ist es der Autorin gelungen, ein bezauberndes Flair zu schaffen, getragen durch die verschiedenen Charaktere und deren unterschiedliche Blickwinkel. Auch diesmal öffnet die Autorin ein Füllhorn voller Charaktere, neben Ariel und Nike, die dem Leser Berlin in den Zwanzigern näher bringen. Gibt es zum einen die glamouröse Seite, die Reichen, die Schönen, die Jungen, die sich dem Lebensstil, der Freiheit und der Freizügigkeit hingeben, die Nächte durchtanzen, Absinth trinken und nicht an morgen denken, so gibt es auf der anderen Seite die Armen, die Älteren, die Nicht-so-gut-Betuchten, die jeden Tag um ihr Überleben kämpfen, die malochen, um ihre Familien zu ernähren und deren Kinder in entweder zu kleiner oder zu großer Kleidung durch die Stadt stromern.

Da ist zum Beispiel Fred, der mit seiner Bande durch die Stadt scharwenzelt und mehr sieht als die Erwachsenen sich vorstellen, und dann sind da die Kraftschicks, SPDler bis in die Zehenspitzen, deren Sohn Anton verschwindet, und dann ist da Bludau von der Sitte, der aber grad gar keine Lust auf seinen Dienst hat, sondern lieber um eine Dame buhlt. Und dann sind da Anton, Polina, Unterleuthner, Bohlke…. Es gibt doch einige Handlungsstränge. Diese tragen dazu bei, ein vielfältiges und eindrückliches Bild von Berlin zu zeichnen, doch tatsächlich waren es mir gerade anfangs zu viele. Der Kriminalfall rückt in der ersten Hälfte des Krimis fast in den Hintergrund, geschuldet den wenigen Spuren, aber eben auch dem umfassenden zeitgeschichtlichen Überblick, den die Autorin zeichnet. Ein wenig mehr Fokus auf Ariel und Nike hätte mir besser gefallen, vor allem, da es ein wenig so scheint, als wäre Nike an Antons Verschwinden kaum mehr interessiert, nachdem sie Ariel darauf angesetzt hat. Nichtsdestotrotz führt die Autorin alle Handlungsstränge am Ende zusammen, keiner ist unnötig und jeder erfüllt seinen Zweck.

Ariel Spiro selbst ist in diesem Band grüblerischer als im letzten. Er überdenkt seine Entscheidung, nach Berlin gekommen zu sein. Zu seinen Kollegen hat er kaum Kontakt, wird eher gemieden und einmal sogar allein ins offene Messer geschickt. Es wird ihm immer noch übel genommen, dass er als Außenstehender den Posten bekommen hat, anstelle eines anderen, der es sich innerhalb der eigenen Reihen verdient hat. Mit hinzu kommt, dass Ariel sich unsterblich in Nike verliebt hat, doch dadurch, dass er sie im Glauben gelassen hat, er wäre Jude, hat sich das Verhältnis der beiden abgekühlt und er stromert unglücklich durch den Park, in der Hoffnung Nike zufällig bei einem ihrer Ausritte zu sehen.

Zum Flair muss man nun wohl noch anmerken, dass es nun politischer wird. Im letzten Teil ist es (zumindest mir) noch nicht so aufgefallen, aber man merkt nun mehr und mehr Tendenzen hin zum Nationalsozialismus. SPDler, NSDAPler, Kommunisten und wie diese sich alle uneinig sind, als auch antisemitische Tendenzen, mit denen auch Ariel Spiro – kein Jude, aber mit jüdisch-klingendem Namen ausgestattet – umgehen muss. Gleichzeitig legt die Autorin den Fokus auf die russischen Flüchtlinge, die Berlin zu dieser Zeit bevölkerten. Nach der Oktoberrevolution sind es hunderttausende, die in Berlin eine vorübergehende Heimat gefunden habe, davon träumen ins vorherige Russland zurückzukehren oder darauf hoffen, bald ein neues Russland zu sehen. Trotzki, Machno und die Machnowschtschina, Bolschewiken und Anarchisten, die Autorin flicht diese doch komplizierten Themen ohne Probleme ein, für mich nicht unbekannt, aber trotzdem habe ich danach noch einiges nachgeschlagen, um mehr darüber zu erfahren. Nichtsdestotrotz muss man sagen, die Leichtigkeit und der Flair der goldenen Zwanziger sind noch vorhanden, doch die Themen werden ernster und man kann einen langsamen Wandel erkennen.

Fazit:
Auch wenn ich mir mehr Fokus auf den Ermittlungen gewünscht hätte, malt die Autorin wieder gekonnt ein eindrückliches Bild der Zwanziger Jahre und weiß mit Flair und zeitgeschichtlichen Details zu überzeugen, so dass die Lektüre des Krimis spannend-kurzweilig und ausdrücklich zu empfehlen ist.