
Jo Walton – Die Stunde der Rotkehlchen
Verlag: Golkonda
289 Seiten
ISBN: 978-3944720418
16,90 €
Vorab:
Auf das Buch war ich wahnsinnig gespannt und wollte unbedingt wissen, wie die Autorin ihre Alternativwelt aufgebaut hat. Ich bin bei der Buchmesse am Stand des Golkonda Verlages vorbeigelaufen und ehrlich gesagt hat mich die Hap & Leonard Reihe von Lansdale angezogen. Schon allein die Cover! Jedenfalls bin ich dann mit einer Mitarbeiterin ins Gespräch gekommen und sie hat mir dann Jo Waltons „Die Stunde der Rotkehlchen“ unter die Nase gehalten. Nach dem Lesen des Klappentextes war ich sofort gespannt und wollte los lesen, doch leider konnte man am Stand keine Bücher kaufen. Netterweise hat man mir dann das Buch als Rezensionsexemplar angeboten und schon ein paar Tage später – übrigens passenderweise genau an meinem Geburtstag – war es in meinem Briefkasten. Vielen Dank an den Golkonda Verlag!
Und los gehts:
1941 wurde zwischen England und Hitler ein Friedensvertrag ausgehandelt. Nun, acht Jahre später, wird Sir James Thirkie, der den Vertrag ausgehandelt hat, auf dem Landsitz Farthing ermordet. Mit einem Dolch in der rotgemalten Brust, gespickt mit einem Judenstern, lässt der Leichnam jede Menge mögliche Theorien zu. Und obwohl durch eine Wochenendgesellschaft, bestehend aus dem Farthing Kreis, einer losen Gemeinschaft politisch Verbündeter, und deren Angehörigen und Bediensteten, eine Menge Verdächtige vorhanden sind, fällt der Verdacht recht schnell auf David Kahn, denn schließlich ist er Jude und von jeher suspekt, vor allem in Verbindung mit dem Judenstern an der Leiche. Glücklicherweise wird der Fall von Inspector Carmichael von Scotland Yard weiterverfolgt und nicht von der örtlichen Polizei, der den Fall neutraler betrachtet und Kahn als Täter fast schon sofort ausschließt. Doch wer hat Thirkie dann umgebracht? Ein politischer Mord scheint bei den Anwesenden wahrscheinlich oder ist das nur Verschleierungstaktik?
Jo Walton präsentiert vordergründig einen klassischen Kriminalfall im Stil von Agatha Christie. Ein entlegener Landsitz, eine geschlossene Gruppe von Verdächtigen und Unmengen von Standesdünkel erinnern einen erst mal stark an Hercule Poirots Fälle und dergleichen. Das ungewöhnliche an dem Krimi ist der alternative Geschichtsverlauf, der im ersten Drittel des Buches noch in den Kinderschuhen steckt. Der Effekt des alternativen Zeitstrangs birgt am Anfang kaum Überraschungen und ist auch eher nebensächlich. Einzig das Verhalten gegenüber den jüdischen Mitbürgern – im Krimi hauptsächlich vertreten durch David Kahn – zeigt auf, dass hier etwas anders ist, als in einem normalen Krimi, der Ende der Vierziger spielt. Zwar werden die Juden nicht verfolgt wie auf dem Kontinent, doch willkommen und respektiert sieht anders aus. Juden leben unter Restriktionen und Vorurteilen.
Nach und nach macht sich die alternative Entwicklung der Geschichtschreibung auch in der Storyline bemerkbar und für mich hat sich der Krimi ab da von einem klassischen Krimi zu einem Krimi mit erheblichem politischem Spannungspotential entwickelt, das sich nicht nur, aber größtenteils durch die alternative Zeitschreibung bedingt. Man darf sich bei 8 Jahren Abweichung jetzt auch keine großartigen Änderungen der Politik und Gesellschaft vorstellen, es sind eher die kleinen Dinge, die verändert sind und sich verändern, bzw. gerade beginnen sich zu verändern.
Das politische Geschehen in und um England webt die Autorin erst mal geschickt nebenbei ein. Da liest der Inspektor eben morgens die Schlagzeilen in der Zeitung – Hitler als gern gesehener Gast im Königreich, Russland im Krieg und die USA schottet sich ab – bevor er sich wieder dem Mordfall widmet. Einiges erfährt man auch durch Lucys Erlebnisse und Rückblicke. Doch das meiste Hintergrundwissen über die Alternativwelt und das politische Geschehen kommt im Zuge der Ermittlung ans Tageslicht. Der Farthing Kreis wird vorgestellt und die Polizei erstellt Exposés über die Mitglieder, die einen groben Einblick in das politische Geschehen der letzten Jahre erlauben. Die politischen Implikationen sind nicht ganz einfach zu verfolgen – man darf nicht vergessen, dass dies eine Mischung aus vergangener Realität und alternativer Weiterentwicklung ist – doch äußerst interessant und spannend. Die Auswirkungen auf die Gesellschaft zeigt die Autorin dann im letzten Drittel ein wenig genauer auf, wenn der Leser Lucys Flucht verfolgen kann.
Abgesehen von den Schlagzeilen bleiben die Geschehnisse außerhalb Englands grau und diffus. Die Geschehnisse sind hauptsächlich auf Farthing konzentriert, darüber hinaus noch auf die politischen Geschehnisse bei der Abstimmung und der Wahl des nächsten Premierministers. Diesen liefern dann auch einen erschreckenden Ausblick, einen Ausblick, der England näher an den Faschismus ran rücken lässt als es in der Realität jemals war. Sie zeigen, wie eine Ideologie sich langsam aber beharrlich festsetzt – natürlich immer im Deckmantel der guten Vorsätze und zum Schutz der Bevölkerung. Die Weichen in den Faschismus sind gestellt.
Die Ereignisse werden aus wechselnder Perspektive von Carmichael und Lucy Kahn, der Frau von David Kahn und Tochter der ehrenwerten Eversleys, denen das Farthing Anwesen gehört, geschildert. Ihre Heirat mit David Kahn wird von ihrem Vater einigermaßen akzeptiert, ihre Mutter zeigt ihr die kalte Schulter, doch das war wohl auch schon vor der Heirat so. Durch ihre Heirat mit einem Juden hat sie einige Nachteile, obwohl David aus einer reichen Bankiersfamilie stammt. Da David der Hauptverdächtige ist, sind ihre Erlebnisse mitunter geprägt von Sorgen, doch mit durchaus intelligenten Rückschlüssen. Ein wenig Naivität ist allerdings auch vorhanden. Lucy ist aber keine „Cosy“ Heldin, die neben den polizeilichen Ermittlungen anfängt, selbst zu ermitteln und die Leute auf Farthing auszuhorchen. Ihr Part schildert die Ereignisse auf Farthing aus einer internen Sicht, der Sicht einer Tochter, die zwar niemals offiziell in politische Aktivitäten einbezogen wurde, aber durch Gerüchte, Aktionen und einer lebenslangen Kenntnis der Anwesenden viele Hintergründe liefert und ganz nebenbei entwickelt sich ihre Geschichte zu einer Geschichte der Vertreibung. Eine Flucht aus dem geliebten und geordneten England, in dem ihr doch nichts passieren kann und dann doch passiert, auf ein Schiff in eine ungewisse Zukunft.
Das Ende lässt einen empört und aufgewühlt zurück und festigt den gefürchteten, aber neugierig machenden Ausblick auf die nächsten Teile. Für mich war „Die Stunde der Rotkehlchen“ ein spannender, klassischer Kriminalfall mit einem politischen Hintergrund. Der alternative Geschichtsverlauf war allerdings noch spärlich entwickelt – was ja nach nur 8 Jahren, an dem er sich von unserer Welt abspaltet, normal ist. Zudem ein klassischer Whodunit auf einem entlegenen Landsitz eben auch keinen größeren Weitblick auf Politik und Gesellschaft geben kann. Jo Walton hat hier schon alles rausgeholt, was möglich ist und somit ist es kein Wunder, dass die Geschehnisse im letzten Drittel aus dem Landsitz heraustreten und die politische Dimension größer wird, um nicht festzustecken, sondern die Geschichte und vor allem den Verlauf der Geschichtsschreibung voranzutreiben.
Ich sehe den Krimi als Wegbereiter für die nächsten zwei Teile: „Der Tag der Lerche“ (Teil 2) ist für diesen Sommer angekündigt, „Das Jahr des Falken“ (Teil 3) hat noch kein Erscheinungsdatum. Im Übrigen findet sich das Rotkehlchen-Thema mehrfach im Krimi – so ganz ohne dass tatsächlich ein Rotkehlchen auftaucht. Der Farthing, eine englische Münze, hat als Symbol das Rotkehlchen eingeprägt und auch der Farthing Kreis wird dadurch symbolisiert. Die rotgemalte Brust des Opfers erklärt sich dann natürlich von selbst…. Ich bin gespannt, ob die Autorin auch die auf Vögel ausgelegte Thematik weiter verfolgt und wie sie das gestalten wird. Aber noch mehr gespannt bin ich darauf, wie sich das England der Alternativwelt entwickeln wird.
Fazit:
Eine äußerst faszinierende Mischung: ein klassischer Kriminalfall der sich geschickt in einen politischen Thriller wandelt und eine alternative Welt einführt – brillant und absolut empfehlenswert. Für mich war „Die Stunde der Rotkehlchen“ ein köstliches Appetithäppchen und jetzt warte ich gespannt auf den nächsten Gang!
