
Wenn ich an den Litradukt Verlag denke, dann kommt mir immer Gary Victor in den Sinn. Nun gut, vor einer Weile gab es auch einen Krimi von Raphaël Confiant, doch Gary Victor mit seinem Inspektor Dieuswalwe Azémar ist schon die sehr bestimmende Gallionsfigur der bisher ins Deutsche übersetzten, haitianischen Kriminalliteratur des Verlags. Wenn nun also der erste Krimi aus weiblicher haitianischer Hand auftaucht, bin ich natürlich entsprechend neugierig. Aber ob sich nun die “sanften Debakel” wirklich in das Genre Krimi einordnen lassen, sei dahingestellt. Nichtsdestotrotz zeigen Yanick Lahens “sanfte Debakel” die kleine Insel Haiti aus einer ganz anderen Perspektive rund um den Mordfall Berthier.
Richter Raymond Berthier wurde ermordet. Noch Monate später sind seine Frau und seine Tochter Brune erschüttert. Brune versucht den Tod ihres Vaters mithilfe ihrer Musik zu verarbeiten, außerdem versucht sie mit ihrem Onkel Pierre Einblick in die Ermittlungsakten zu erhalten. Um die beiden herum, eine Gruppe von jungen Leuten, ein Journalist, ein Revolutionär, ein Poet und ein Anwalt. Nur nach und nach zeigen sich die Zusammenhänge um Richter Berthiers Tod und den Tathergang, der, wenn auch nicht gesühnt, doch enthüllt wird.
Während ich Gary Victors Blick auf Haiti hart und unverstellt, bisweilen sogar niederschmetternd empfinde, womit er natürlich hervorragend eine Noir-Krimi transportiert, ist Yanick Lahens Blick ganz anders. Durch die kleine verschworene Gemeinschaft um Brune Berthier und ihren Onkel Pierre erlebt man die Insel dunkel, aber pulsierend. In einer innigen, poetischen Sprache zeigen die einzelnen Mitglieder der Gruppe ihren Blick auf die Insel. Es fühlt sich lebendig und pochend an, aber immer unterlegt mit einem Hauch von Gefahr und Kriminalität. Auch wenn man nicht direkt an irgendwelchen Ermittlungen beteiligt ist, bzw. davon auch nur wenig stattfindet, entwickelt die Geschichte einen Sog und erzählt einem so nebenbei, wie der Mord an Richter Raymond Berthier statt gefunden hat und warum. Dabei ist es aber viel wichtiger, die Hintergründe hervorspitzen zu lassen. Und hier ähneln sich die Geschichten der haitianischen Autoren, zeigt doch auch Yanick Lahens die kriminelle und korrupte Struktur der kleinen Insel, die bis in die tiefsten Verästelungen reicht und bei der man sich fragen muss, ob es Haiti überhaupt jemals möglich sein wird, diese Ketten irgendwann abzuwerfen.
Gleichzeitig zeigt die Geschichte aber auch die vielfältige Kultur der Insel. Allen voran die Musik, hauptsächlich vertreten durch Brune Berthier Gesand, genauso dunkel und pulsierend wie Haiti. Aber eben auch die Gastfreundschaft, das Essen und den Zusammenhalt, welche die Insel ausmachen. Mit ihrer poetischen Art erzeugt die Autorin dabei ständig Bilder, versetzt mit Musikfetzen, die einem vor Augen erscheinen. Durch das pulsierende Leben, welches die Geschichte trägt und auch die Korruptheit, mit welcher die Insel durchzogen ist, entsteht eine soghafte Wirkung. Ein Blick auf ein Port-au-Prince und seine Bewohner, wie wir sie von Gary Victor kennen, aber eben doch ganz anders. Yanick Lahens verleiht der Stadt und den Haitianern eine poetische Tiefe sowie eine pulsierende Lebendigkeit, die seinesgleichen sucht.
Fazit:
Ein kleines Stück Haiti, exemplarisch an einen Mordfall gelehnt. Dunkel, satt und kräfigt, mit schlagendem Puls und lauernder Gefahr.