Da ich in meiner letzten Rezension zu Olivia Kiernans „Zu nah“ daran rumgemäkelt habe, dass der Handlungsort in dem Krimi völlig austauschbar war, muss ich hier nun klar stellen, dass er das nicht ist. Es wird in keiner Zeile angegeben, wo die Geschichte sich abspielt, aber ganz gewiss nicht in Europa, schon gar nicht in Irland. Der Krimi – oder fast schon die Krimikomödie – liest sich so verdammt amerikanisch, dass ich nochmal nachlesen musste, aber ja, der Autor wohnt tatsächlich noch in Irland und ist nicht in die USA ausgewandert. Nichtsdestotrotz ist das die einzige Gemeinsamkeit, die Burkes Krimi mit Kiernans Thriller gemein hat, denn diese Geschichte hier, ja genau diese hier, ist eine der abgefahrensten Stories, die ich je gelesen habe.
Figurenkarussell
Dabei passiert erst mal so gar nicht viel. Der Schönheitschirurg Frank darf nicht mehr praktizieren, nur noch beraten und lässt sich gerade von seiner Frau Madge scheiden. Das kostet beides fürchterlich viel Geld und so sucht er nach einem Lösungsweg. Da kommt ihm die Versicherung ganz recht, die eine halbe Millionen locker macht, wenn Madge – noch seine Frau – entführt wird und Lösegeld verlangt wird. Deshalb engagiert er jemanden, der seine Frau entführt. Dieser jemand beauftragt Ray, der wiederum Karen in einer Bar aufgabelt und mit ihr eine Beziehung anfängt. Was Ray nicht weiß ist, dass Karen nicht nur Franks Sprechstundenhilfe ist, sondern auch Madges beste Freundin. Und dann gibt es da noch Rossi, Karens Ex, der seine Ducati, seine Waffe und sein Geld zurückfordert, welche Karen aber mittlerweile benutzt, um Läden zu überfallen, damit sie Anna durchfüttern kann. Komplettiert wird das Ensemble durch die Polizistin Doyle, die Straftaten wittert, als Frank den Diebstahl seines Smartphones meldet, aber dabei den Diebstahl seiner Aktentasche unterschlägt. Die wiederum wurde von Rossi geklaut….
Viel los! Nichts los?
Zugegeben, es ist eine Menge los bei Declan Burke. Zumindest im Figurenensemble geizt er nicht. Mit der Geschichte allerdings schon, denn ständig passiert etwas, aber die Entführung selbst findet dann auch erst in den letzten Seiten statt. So muss man sich also für das Buch öffnen und nicht gleich Mord und Totschlag, oder eben Entführung erwarten, sondern sich auf die Charaktere einlassen. Genüsslich diese Figuren kennen lernen, die alle ihre Eigenarten haben und von denen es keiner so genau mit dem Gesetz nimmt, abgesehen von Doyle vielleicht. So ist es auch ein wenig schwierig am Anfang den Überblick zu behalten, denn alle genannten bekommen ihre eigenen Kapitel, doch nach einigen Seiten hat man sich eingelesen und springt fröhlich auf das Figurenkarussell auf.
Heimlicher Star
Die heimliche Hauptfigur des Krimis ist definitiv Karen. Sie steht in der Mitte, verbindet alle losen Enden miteinander und ist Dreh- und Angelpunkt der Geschichte. Karen piesackt gerne Frank, lästert mit Madge über ihn und hat zwei, drei größere Geheimnisse. Als sie Ray kennenlernt geht sie eigentlich davon aus, dass das nur was Kurzes wird, aber irgendwie scheinen die beiden füreinander geschaffen. Offiziell streicht Ray Wände, doch nach einigen zufälligen Auffälligkeiten weiht er Karen ein und der Plan ändert sich. Schließlich will jeder ein Stückchen vom Kuchen.
„Karen hatte einen schiefen verwachsenen Kiefer, nachdem sie ihr Kinn wiederholt auf den Rand des Waschbeckens im Badezimmer geschlagen hatte, während ihr Vater unten in der Küche auf dem Boden lag, mit einer Gabel im Brustkorb knapp über dem Herzen.“ (S. 21)
Der arme Schlucker
Die wohl tragischste Figur im Ensemble ist Frank. Unglaublich, aber wahr. Sollte man doch meinen, Frank ist ein Ekel – schließlich will er seine Frau entführen lassen. Aber eigentlich ist er ein armer Tropf. Seine Fast-Ex-Frau und ihr Anwalt wringen ihn aus, seine neue Geliebte ist ein Dummchen, natürlich wunderschön, aber nur auf sein Geld aus und schnappt sich die Reste und für Frank bleibt eigentlich nichts übrig. Nachdem noch zwei Klagen im Anzug sind, ist er völlig am Ende. Aber wir wissen ja, schlimmer geht es immer!
„Frank war der festen Überzeugung, dass dies der beste Morgen seines ganzen Lebens war.
…..
Er drehte sich um, bevor ihm dämmerte, dass er genau das nicht hätte tun sollen, aber jetzt war es ja schon zu spät. Sie hatte seinen Namen nur ausgesprochen, um ihn durcheinanderzubringen. Und als er sich jetzt umdrehte, spürte er auch noch etwas Kaltes und Hartes an seinem Handgelenk, das mit einem metallischen Klicken einschnappte und sich eng darumlegte.“ (S. 288)
Die Falle schnappt zu
Und so treibt man durch und mit den Figuren durch die Geschichte, plant die Entführung, ändert die Pläne. Leidet, aber vor allem lacht und schmunzelt mit den Figuren, die alle ihre Eigenheiten haben und auf ihre Vorteile bedacht sind. Einer schlimmer wie der andere, aber doch irgendwie liebenswürdig genial. Und man könnte meinen, es passiert doch gar nichts, doch man muss eben auch einfach mal die Herrlichkeiten von grotesk guter Charakterzeichnung genießen, wenn die Ganoven und Ganövchen hier einen exzellenten Tanz aufführen, rein mit der Planung bedacht, die dann in den letzten Seiten reinknallt und das Buch abschließt.
Fazit:
Eine Krimikomödie par excellence, mit hervorragend gezeichneten Charakteren, aber zugegebenermaßen einer schleichenden Handlung, die erst am Ende explodiert.
Declan Burke – The Big O
Verlag: Edition Nautilus
Übersetzer: Robert Brack
316 Seiten
ISBN: 978-3960540021
Weitere Titel von Declan Burke:
Absolute Zero Cool
Eight Ball Boogie
Weitere Stimmen:
Krimileser meint: „Das Buch überzeugt (mit dem würdevollen Ende und) auch deshalb, weil es schlichtweg eigenständig ist. Hier riskiert jemand was … und gewinnt. “
Krimikritik meint: „Aus dieser arg verwickelten Situation strickte Declan Burke einen ebenso witzigen wie wüsten und komplett moralfreien Krimiklamauk. Ziemlich unterhaltsam.“
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11. Oktober 2018 um 15:31
Hört sich toll an, muss ich lesen!
11. Oktober 2018 um 18:28
Lohnt sich auf jeden Fall!
11. Oktober 2018 um 15:38
Haha, das klingt köstlich, wie gut, dass auch dieser Roman bereits hier parat liegt. Du hast wirklich recht, wir könnten den Spieß nun wirklich umdrehen und die Titel des anderen lesen. :D
Ich habe „The Big O“ vermutlich bisher auch erstmal im Regal stehen lassen, weil ich „Absolute Zero Cool“ damals irgendwie nicht so richtig mochte und dann baut man ja gerne mal so eine Art Berührungsangst auf. Dabei fand ich den Klappentext zum Big O natürlich klasse und wenn es ums Pläneschmieden geht, bin ich sowieso ganz Egon Olsen und total dabei. Vielleicht war es für „Absolute Zero Cool“ und mich damals auch einfach nur die falsche Zeit, das hat man ja auch oft. Jedenfalls machst Du mir echt Laune auf Big O! :D
11. Oktober 2018 um 15:48
PS: Ganövchen! Hahaha, i like! :D
11. Oktober 2018 um 18:30
:-D Ich auch!
11. Oktober 2018 um 18:29
Haha… das ist witzig!
Ich hab auch „Absolute Zero Cool“ angefangen und abgebrochen. Und dann war ich auch unsicher, ob das wohl mit mir und Burke noch klappt, aber siehe da! Es funktioniert. Also nicht abschrecken lassen!
11. Oktober 2018 um 18:49
Ha, gibt es ja nicht! 😁 Perfekt, das ist genau das, was ich hören musste! Auf geht es! 🤗
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12. Oktober 2018 um 14:30
Hach, sehr schön auf den Punkt gebracht! Mir hat „The Big O“ seinerzeit sehr viel Lesefreude bereitet. Gen Ende wurde mir zwar etwas schwindelig, aber das ist bei Declan Burke ja irgendwie normal. ;) Ich muss allerdings gestehen, dass ich „Absolute Zero Cool“ von ihm soviel besser fand. Weil halt knallhart abgefahren. Solche Geschichten mag ich sehr. Ich habe aber auch nichts gegen seinen „normaleren“ Krimi. ;)
15. Oktober 2018 um 09:28
Na, irgendwann trau ich mich vielleicht ja auch nochmal an „Absolute Zero Cool“ heran. Noch wartet es ja im SUB. :-)
14. Oktober 2018 um 14:57
Also trotz deiner Kritikpunkte, muss ich sagen, dass du mich extrem neugierig auf das Buch gemacht hast :D
Vor dieses „Komödie“ reizt mich :)
15. Oktober 2018 um 09:27
Oh, ich hoffe, die Kritik kommt nicht zu stark raus? Das Buch war nämlich schon klasse – der Kommentar zum fehlenden irischen Feeling ist ja auch dem Spezial mit irischer/nordirischer Krimiliteratur gewidmet…. :-)
Also lass Dich ruhig reizen – das Buch macht definitiv Spaß zu lesen!
15. Oktober 2018 um 16:44
Nein, alles gut! Aber sobald einer von einer gewissen Ruhe am Anfang redet, stellen sich meine Lauscher auf. Ist ja nicht immer negativ so etwas, aber hab halt schon oft erlebt, dass ich dann Bücher deswegen abbreche ;)
15. Oktober 2018 um 16:54
Ah, verstehe. :-)