Jutta Profijt – Unter Fremden
Verlag: dtv
336 Seiten
ISBN: 978-3423261654
(Link führt zur Taschenbuchausgabe, derweil meiner Besprechung die broschierte Ausgabe zu Grunde liegt)
Madiha lebt nahe einem Dorf im Flüchtlingsheim, mit Hunderten unter einem Dach, mit 8 Frauen in einem Zimmer. Von ihrem Vater allein auf die Flucht geschickt und mit Gehbehinderung war die junge Frau froh, dass Harun ihr auf ihrem Weg begegnet ist und ihr geholfen und sie beschützt hat. Nun, angekommen in Deutschland, ist er plötzlich verschwunden und Madiha fühlt sich verpflichtet dem einzigen freundlichen Menschen zu helfen und macht sich auf die Suche nach ihm. Das ist allerdings nicht jedem recht.
Madiha ist eine zurückhaltende junge Frau, die ungern redet, eher schweigt. Mit ihrer Gehbehinderung, die ihr ein Unfall beschert hat, ist sie zudem eingeschränkt und hat öfters Schmerzen, doch läuft beharrlich, um in Bewegung zu bleiben. Zu den anderen Flüchtlingen hat sie kaum Kontakt. Sie kommt aus einer als rückständig geltenden Gegend Syriens und verbrachte ihre Tage bisher lieber schweigend bei der Feldarbeit oder beim Essen kochen als nun im Flüchtlingsheim zu übersetzen. Ein Zufall wollte es, dass sie in ihrer Kindheit deutsch zu sprechen gelernt hat, lesen und schreiben kann sie aber nicht. Sie ist eine ruhige Frau, die von der Verpflichtung, die sie sich auferlegt hat, gezwungen wird, offener zu sein, Fragen zu stellen, nachzudenken.
Die deutsche Kultur ist nicht unbedingt ein Schock für Madiha, aber doch oft unverständlich. Ganz deutlich kommt das bei der – für sie – recht geschmacksneutralen deutschen Küche im Gegensatz zur syrischen Küche heraus, die mit vielen Gewürzen, Kräutern und Hammelfett arbeitet. Das Wetter macht ihr zu schaffen, die dunkle Herbstzeit, welche aber auch ich immer mal wieder bedrückend finde. Madihas Vertrauen in den deutschen Rechtsstaat oder die Polizei ist auch kaum vorhanden, kein Wunder mit den Erfahrungen, die sie in ihrem Land gesammelt hat, einem Land, dass vermutlich schon vor dem Krieg härtere Gesetze, höhere Strafen und mehr Korruption bot, aber besonders während des Krieges wohl kaum mehr Regeln hatte und jeder einfach um sein Leben fürchten musste.
Besonders beeindruckend fand ich auch die Wandlung, die Madiha im Laufe der Handlung durchmacht. Es sind immer nur kleine Schritte, unterlegt mit vielen Zweifeln, aber doch oft mit dem Ergebnis, dass sie da jetzt eben durch muss, mutig sein muss, sich etwas zutrauen muss. Sie wird jetzt kein anderer Mensch, sie wird keine Deutsche oder legt ihren Hidjab ab, aber sie wird mutiger, beginnt Dinge zu hinterfragen und löst Konflikte auf ihrem eigenen Weg. Wenn es die Höflichkeit, die sie anerzogen bekam, nicht erlaubt zu widersprechen, dann schweigt sie eben und geht. So einfach kann das manchmal sein, und doch so schwer. Ein wenig ist ihre Wandlung wohl auch der Handlung geschuldet, denn im Flüchtlingsheim kann sie ihre Suche nach Harun nicht mit Erfolg abschließen – da muss sie schon raus in die weite (deutsche) Welt.
Auch wenn die Autorin die Erlebnisse Madihas natürlich nicht mit eigenen Erfahrungen einer Flucht und dem Status einer Asylbewerberin unterfüttern kann, kann man erkennen, auch ohne anhängende Erklärung oder Literaturverzeichnis, dass hier eine fundierte Recherche statt gefunden hat und viel Empathie einfließt. Ausschlaggebend und exzellent gewählt ist hier auch der Titel “Unter Fremden”. Madiha ist ohne Familie nach Deutschland geflüchtet, lebt mit Hunderten anderen Flüchtlingen aus unterschiedlichen Ländern und unterschiedlichen Regionen unter einem Dach, und ist doch allein, fühlt sich keinem zugehörig. Doch auch außerhalb des Flüchtlingsheims ist sie eine Fremde, ihre Kleidung grenzt sie ganz deutlich ab, einerseits Versteck, auf der anderen Seite wie eine Leuchtreklame.
Eigentlich ein leiser Kriminalroman, wenn auch das hintergründige Thema sehr ernst und gefährlich ist. Aber der Fokus liegt auf Madiha, ihrer Situation und wie sie damit umgeht. Trotzdem passiert einiges, von Molotowcocktail über Hausbrand bis hin zu Entführung und Mord. Der Autorin gelingt hier ein sehr ausgeglichener Mix, ich fühlte mich nie gelangweilt, weil nun Madiha viel über ihre Kultur nachdenkt oder ähnliches, sondern ich konnte mich gut in sie hineinversetzen. Zudem war es glaubhaft, wie zaghaft und mit Zurückhaltung sie auf die Suche nach Harun geht und nicht gleich mit der Tür ins Haus fällt. Und, man mag es kaum glauben, auch wenn man vielleicht gleich eine Vermutung im Kopf hat, was mit Harun passiert ist – das Buch endet dann doch anders als man denkt.
Fazit:
Ein eindringlicher Krimi, der zwar alle Zutaten hat, die dieser eben so braucht, aber auch zusätzlich Einblick gibt in eine Frau, die nach schrecklichen Erlebnissen, in einer anderen Kultur, einem anderen Land, in der Fremde ankommt und versucht sich zurecht zu finden. Eine sehr gelungene Kombination.
Pingback: Challenges 2019 | Die dunklen Felle