Die dunklen Felle

Krimis, Thriller und Science Fiction

Abgefahren: Clockwork Orange – Anthony Burgess

25 Kommentare

„Clockwork Orange“ war ein Buch, welches ich mir extra für das Dystopie-Special gekauft habe, denn die meisten anderen Bücher befanden sich schon in meinem Regal. Zwar war mir Clockwork Orange ein Begriff, aber ehrlich gesagt hatte ich keine Ahnung, worum sich die Geschichte drehte und schon gar nicht, dass es einen dystopischen Charakter hat. Um schon mal ein wenig vorzugreifen, bin ich mir bei diesem Buch auch ehrlich gesagt unsicher, ob ich es dort jetzt noch einordnen kann.

Alex und seine Droogs
Veröffentlicht wurde das Buch 1962 und soll sich ungefähr 40 Jahre später abspielen. Alex ist zumindest in weiten Teilen ein Jugendlicher, wie man ihn sich vorstellt: keine Lust auf Schule oder Arbeit, dafür wird lange geschlafen und nachts zieht Alex, gemeinsam mit seinen Droogs (= Freunden), um die Häuser, quatscht Unsinn, trinkt, nimmt Drogen. Doch die Gewaltbereitschaft von Alex und seinen Droogs ist wesentlich höher als beim „normalen“ Jugendlichen und so schaffen es die Jungs in einer Nacht mehrere Straftaten zu begehen: Überfall, Einbruch, Diebstahl, Vergewaltigung, Mord.

„,Man fühlt sich richtig dobbi, nach so was‘“ (S. 23)

NADSAT
So weit, so gut, doch allerdings ist es nicht so einfach, überhaupt so weit zu lesen und den ersten Teil, der insgesamt drei, aus denen das Buch besteht, zu schaffen. Der Grund dafür ist die von den Jugendlichen genutzte Ausdrucksweise, welche NADSAT genannt wird. Diese bedient sich hauptsächlich aus dem Russischen und so steht NADSAT für Teenager / Jugendliche  – die Zahlen 11 bis 19 im Russischen enden anscheinend auf -nadsat, was man dem umfangreichen und auch reichlich nötigem Glossar entnehmen kann. Am Anfang habe ich wirklich oft in dem Glossar geblättert, klar, irgendwann wiederholen sich die Wörter, aber anfangs gab es Sätze, diehabe ich ohne das Glossar gar nicht verstanden. Sehr umständlich, tatsächlich hätte ich mir in diesem Buch – wenn auch ungewöhnlich außerhalb der Fachliteratur – Fußnoten gewünscht. Aber irgendwann wird das genaue Wort auch nicht mehr so wichtig, wenn man den Sinn erkennt und so wurde das Nachschlagen – zum Glück – weniger. Die Jugendlichen mischen das NADSAT mit einer antiquierten Sprechweise, die äußerst höflich klingt und somit eine sehr seltsame Kombination bildet.
Ein kleiner Rat noch am Rande – wer die gleiche Version wie ich besitzt, sollte auf das Vorwort verzichten, es sei denn, er möchte die Handlung schon komplett in Kurzform erklärt bekommen.

„Unsere Taschen waren voll Deng, und unter dem Gesichtspunkt, noch mehr Strom zu krasten, wäre es nicht wirklich nötig gewesen, irgendeinen alten Veck in einer Seitenstraße zu toltschocken und ihn in seinem Blut schwimmen zu sehen, während wir die Einnahmen zählten und durch vier teilten, oder bei irgendeiner zitternden, grauhaarigen Titsa in einem Laden das Ultrabrutale zu machen und smeckend mit den Innereien der Geldschublade abzuziehen. Aber, wie es heißt, Geld ist nicht alles.“ (S. 15-16)

Aktualität
Autoren von Dystopien greifen oft aktuelle Themen auf und entwickeln diese weiter, überlegen sich wie dieses Thema sich in der Zukunft verhalten könnte. Und man kann recht klar sagen, dass Burgess zutiefst besorgt über die Entwicklung der Jugendlichen seiner Zeit war und eine weitere Verrohung und Ungehorsamkeit voraussah. Damit liegt er wohl mit allen Erwachsenen, allen Eltern jeder Generation in Einklang, denn Kinder und Jugendliche loten ihre Grenzen aus, egal in welcher Generation oder in welchem Land. Nichtsdestotrotz hat Burgess mit seiner Vision der Jugend in der Zukunft nicht ganz danebengelegen. Immerhin gibt es schon Gegenden auf die es zutrifft, dass man sich dort abends nicht mehr hin trauen kann, schon gar nicht alleine. Auch die Gewaltbereitschaft der Jugendlichen hat zugenommen. Die eindrücklichste Szene, die mir hierbei in den Kopf springt, sind die Jugendlichen oder jungen Männer, die ohne jeglichen Grund eine Frau die Treppe hinunter schubsen. Sind wir also dort angekommen, wo Burgess uns sieht? Sind unsere Jugendlichen diejenigen, die eigentlich die Kontrolle haben und uns Erwachsene mit Angst und Gewalt beherrschen? Ganz soweit mag es nun noch nicht gekommen sein, doch die Hemmschwelle liegt definitiv niedriger als sie es früher war.

Die Lösung?
Mit Besorgnis hat Burgess dies wohl betrachtet und versucht eine Lösung zu finden. Dabei stellt er eine zutiefst philosophische Frage: ist es besser das Gute zu erzwingen oder die Entscheidung für das Gute, welche nur freiwillig getroffen werden kann? Im Buch landet Alex im Gefängnis und wird für die „Ludovico“ Methode ausgewählt, eine Konditionierung, die ihm zukünftig Schmerzen zufügen soll, wenn er daran denkt, Gewalt auszuüben. Die Konditionierung ist nichts anderes als Folter, die Alex aber tatsächlich „heilt“, nicht nur von Gewalt, sondern auch von einer seiner wenigen guten Seiten, seiner Liebe zu klassischer Musik.

„Menschliche Güte ist etwas, für das man sich entscheidet, das man für sich selber wählt. Wenn ein Mensch nicht mehr wählen kann, dann hört er auf, Mensch zu sein.“ (S. 105)

Böse bleibt böse – oder?
Das Experiment – wie sollte es auch anders sein – misslingt, so dass sich eben die Frage stellen lässt. Kann jemand von Grund auf böse sein? Kann er zum Guten konditioniert werden?  Kann das Böse geheilt werden? Und wenn das Böse geheilt wird, wenn jemand gut ist – geht er dann nicht unter? Wenn der Rest der Gesellschaft doch immer noch böse ist. Burgess reißt tatsächlich im letzten Kapitel das Ruder komplett herum und deutet an, dass Jugendliche aus dieser Bösartigkeit auch herauswachsen können.

Meisterwerk
Abschließend muss ich mir nun schon die Frage stellen, ob Burgess „Clockwork Orange“ denn nun tatsächlich in die Kategorie Dystopie gehört. Schwierig zu beantworten, denn noch bin ich nicht soweit, mein komplettes Fazit aus dem Spezial zu ziehen, doch bisher ist es wohl das Buch, welches ich am wenigsten dazu zählen würde und doch…. Na ja, ich brauch noch ein wenig für mein Fazit. Leider muss ich aber auch sagen, dass es das Buch war, welches mir am wenigsten Spaß gemacht hat. Es war schwierig zu lesen und auch recht philosophisch. Das letzte Kapitel lässt einen dann ratlos zurück, denn so ganz mag ich der urplötzlich auftauchenden Vernunft nicht trauen.
Wer mag kann sich hier übrigens die Verfilmung ansehen, von Kubrick, einem Meister seines Faches. Mir hat ein kleiner Ausschnitt, den ich mir angesehen habe, allerdings gereicht. Mehr muss nicht sein.

Fazit:
Nicht ganz einfache Lektüre mit philosophischem Hintergrund, die mich leider die Haare raufen ließ. Das Glossar ist unverzichtbar, um überhaupt Alex zu verstehen. Doch Verständnis oder gar Sympathie kann man dem Jugendlichen tatsächlich nur wenig entgegenbringen. Zusammenfassend kann man es wohl unter einen Begriff: abgefahren!

 


Weitere Meinungen zum Buch:
Marc auf Lesenmachtglücklich: „Lässt man sich darauf ein, bekommt man ein Stück literarisches Zeitzeugnis geboten und gehört definitiv zu den Büchern, die man zumindest in Ansätzen gelesen haben sollte.“
Jari auf Jaris Büchergebrabbel: „„Clockwork Orange“ ist eine Grenzerfahrung.“
Eva auf Thelostartofkeepingsecrets: „Burgess ist eine fesselnde Dystopie gelungen, in der die Gewalt des Staates gegenüber dem Individuum thematisiert wird.“


Bibliographie:
Anthony Burgess – Clockwork Orange
Verlag: Heyne
Übersetzung: Walter Brumm, neu überarbeitet von Erik Simon
Vorwort von Tom Shippey (übersetzt von Erik Simon)
236 Seiten (inkl. Vorwort und Glossar)
ISBN: 978-3453164130


 

25 Kommentare zu “Abgefahren: Clockwork Orange – Anthony Burgess

  1. Liebe Christina, vielen Dank für die Verlinkung. Ich mag deine Rezension und dein Buchfoto ist super, ich muss direkt an Alex in seiner Zelle denken. Liebe Grüße, Eva

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  4. Spannende Geschichte, da es mir mit meiner Lektüre von Philip K. Dicks „Der dunkle Schirm“ genauso erging und ich mir die Frage gestellt habe, ob das Buch überhaupt in diese Kategorie passt. Schon komisch. Ich scheine mich da schon irgendwie an dieser Präsenz eines totalitären Staates gepaart mit Sciencefiction-Elementen zu orientieren. Andererseits störe ich mich als engagierte Kriminalliteraturleserin auch daran, wenn Menschen den Krimibegriff so engstirnig fassen und dann so Sätze wie „viel mehr als ein Krimi“ klingen, als könne der Krimi nix. Insofern, hm, ich betrachte mich da gerade selbst ganz kritisch beim Lesen und denke, der kleinste gemeinsame Nenner ist wohl am ehesten das Bild einer negativen Zukunft. Welche Komponente dann negativ ist und mit welcher Genauigkeit sie dargestellt wird, hängt vom Autor und seinem Anliegen ab. Aber gewisse technische Spielereien spielen schon auch eine Rolle.

    „Clockwork Orange“ habe ich leider noch nicht zu lesen geschafft, ich wollte ja gerne parallel mitlesen, und es liegt für diesen Monat auch noch bereit, also komme ich später sicher nochmal an dieser Stelle darauf zurück und hoffe, spätestens bis zu unserem Fazit am Ende hierzu auch eine Meinung zu haben!

    An den Film erinnere ich mich nur noch dunkel, auf jeden Fall sind da seltsame, bruchstückhafte Erinnerungen hängengeblieben ;) und ich würde mir nach der Lektüre dann auch nochmal Kubrick geben.

    • Ich denke, wir konferieren eh nochmal vor unserem Fazit, aber ich finde es grade sehr gut, wenn das sogar zwischen uns nicht abgestimmt sondern unterschiedlich ist. Allgemein kann ich Dir zustimmen: eine negative Zukunftsvision scheint der gemeinsame Nenner zu sein. Wobei sowohl bei unseren beiden ersten Büchern – Wir und Die Maschine steht still – aber auch z. B. bei Schöne, neue Welt dies ja nur uns so vorkommt. Die Charaktere sind an ihre Welt gewöhnt und ihnen erscheint das ja gar nicht negativ. Also zumindest allen bis auf ein paar wenigen.
      Ein gemeinsamer Nenner, den ich bisher noch feststellen konnte, ist der, dass die Autoren immer aktuelle, zum Teil fragwürdige oder gefährliche Themen aufgreifen und diese weiterspinnen. Themen, deren Ausmaß man noch nicht absehen kann, die aber schlimm enden können und die diese dann aufzeigen. Ein Lehrstück quasi: macht es besser, sonst wird es böse enden!

      Immerhin kennst Du schon den Film – davor hab ich mich tatsächlich gesträubt. Ich fand die Lektüre schon sehr… hm, ja, abgefahren trifft es wohl am ehesten und ich hab mir einen kleinen Ausschnitt angesehen – das hat mir gereicht. Clockwork Orange ist ja ein Klassiker und durch die Verfilmung auch irgendwie ein Meisterwerk, aber mir hat es dann persönlich doch nicht so sehr zugesagt. Ohne unser Blogspezial hätte ich es wahrscheinlich nie zu Ende gelesen.

      • Ja, na klar, das hatte jetzt nur gerade gepasst, dass wir hier ungefähr zeitlich ins Grübeln kamen. ;) Aber was ich dazu noch kurz einwerfen muss, ich denke, die Zufriedenheit der Figuren ist nicht der ausschlaggebende Punkt, sondern wir wir als Rezipienten das erfassen. Den Figuren in „Wir“ (lese ich auch gerade, sehr toll!) sind ja ihre Welt zwar gewöhnt, stören sich vielleicht nicht an ihr, aber dennoch nutzt der Autor dieses Gefüge ja, um eine aus seiner Sicht negative Zukunft zu demonstrieren.

        Inwiefern man jetzt den Figuren dann unterstellen kann, dass ihr Leben in Konformität, Unterdrückung und Überwachung falsch ist, obwohl sie ja offenbar nichts Negatives an ihrem Leben sehen und zufrieden sind, ist dann schon schön philosophisch. Aber in letzter Konsequenz gab es ja immer eine Figur oder mehrere in den Geschichten, die von dem Wunsch nach Freiheit und Individualität angetrieben wurden und diesen Schein der Zufriedenheit aufgebrochen haben.

        Herrje, man könnte stundenlang darüber nachdenken und vom Hundersten ins Tausendste kommen. :D

        • Ich wollte mich gar nicht darüber beschweren, dass wir schon jetzt über die Frage „Was ist eine Dystopie“ diskutieren, nur, dass ich noch nicht bereit für ein Fazit bin. Die Frage ist, ob ich das jemals sein werde…. :-D
          Und auch wenn die Frage, ob denn tatsächlich die Figuren sich wohl fühlen und gar nichts ändern wollen, sehr philosophisch ist, finde ich sie trotzdem spannend. Denn die eine (oder auch mehrere) Personen sind ja doch eingefügt vom Autor, um eben die Missstände aufzuzeigen. Ich finde, sehr gut gelöst hat das Huxley in seiner schönen, neuen Welt, denn er hat tatsächlich jemand von außen in diese heile Welt gebracht. Oft stammen die Querulanten aus dieser Welt und sind ja auch zuerst oft konform damit und mitunter kommt es mir zu plötzlich, dass diese rebellieren. Eine schöne Wandlung sieht man auch in Lügeland von Lerchbaum. Da hab ich das der Protagonistin total abgenommen, dass sie ihre Meinung ändert. Sie musste, sie konnte gar nicht anders. Aber was ist, wenn es nun niemanden von außen gibt, oder keinen, der seine Meinung ändert und „plötzlich“ aufwacht?
          Ich hab da ständig Nordkorea im Hinterkopf. Das Land ist schon sehr abgeschottet, wenn auch noch nicht ganz. Aber inwieweit kann sich dort Widerstand bilden? Wenn es nun dort gar kein außen mehr gäbe? Kein Land, in das man fliehen kann und es schon Jahre weiter ist? Dann sind die Kinder und Kindeskinder doch schon damit aufgewachsen – wie sollen die was anderes kennen oder ihre Norm in Frage stellen?
          Ich weiß nicht, ob das jetzt logisch ist oder ob ich mich verständlich machen konnte – es ist schon ein bisschen spät und mein Hirn ist matschig….

          • Hatte ich so auch nicht verstanden! ;) Ist ja gerade spannend, dass man endlich mal so intensiv über Literatur diskutieren kann, bei den Krimibesprechungen kommen ja doch seltener solch angeregte Diskussionen zustande. Schade eigentlich. Vermutlich stecken wir da in der Materie schon zu sehr drin?!

            Ja, absolut, je philosphischer eine Fragestellung, umso spannender wird es! :D

            Hm, „Lügenland“ hat mich zum Beispiel nicht so hunderprozentig gepackt. Also ich meine, der Roman war gut und spannend erzählt, aber zum einen hat mich das Doppelgänger-Element nicht überzeugt und dann hat mir bei den Figuren an vielen Stellen eine etwas differenziertere Darstellung gefehlt. Die politische Botschaft wird einem hier überdeutlich unter die Nase gerieben, ich persönlich finde es etwas subtiler schon schöner. Als wäre der Leser blöde und müsste ganz genau erklärt bekommen, was falsch und was richtig ist. Das langweilt (und zuweilen nervt) mich immer schnell. War auch bei „Die Lieferantin“ so ein Punkt, an dem ich hängengeblieben bin. Deutschsprachige Autoren und Autorinnen haben da oft diesen Oberlehrer-Stil, den erhobenen Zeigefinger, das finde ich in der Literatur immer … störend. Dann halt ein Essay oder Streitschrift veröffentlichen, aber im Roman wirkt das auf mich immer so plump, da erwarte ich irgendwie mehr. Jerôme Leroy oder auch (um die Ausssage um deutschsprachigen Autoren und Autorinnen wieder zu relativen) Juli Zeh haben das zum Beispiel viel eleganter und literarischer gelöst, fand ich.

            Ich muss da tendenziell eher an die DDR als an Nordkorea denken, was mit meinem familiären Hintergrund zusammenhängt, aber klar, die Frage ist offensichtlich. Ich weiß nicht, ich denke, es braucht viele Faktoren, um Widerstand gegen ein Regime leisten zu können. Auch wenn die Vergangenheit ja immer wieder zeigt, dass Diktaturen zwangsläufig scheitern, erzeugen sie erstens in dieser Zeit sehr viel Leid und Tod und sind zweitens allein von innen heraus oft nur schwer zu sprengen. Hinzu kommt, der Mensch ist extrem anpassungsfähig. Wenn es dir nicht wirklich schlecht geht, und auch das ist oft eine Frage von der Verhältnismäßigkeit, dann erscheint es einem nicht sinnvoll, sein Leben oder das seiner Angehörigen zu gefährden, um Widerstand zu zeigen. Wie gut Indoktrinierung funktioniert und wie gerne Menschen bereit sind, einer Herde zu folgen, hat auch die Vergangenheit immer wieder gezeigt.

            In den Dystopien, die ich jetzt für dieses Spezial gelesen habe, kam der Widerstand ja doch letztlich daher, dass sich die Menschlichkeit durchgesetzt hat. Entweder der Wille nach räumlicher Freiheit oder nach gedanklicher Freiheit. Weil dieses Leben ohne eigene Meinung, ohne persönliche Freiheiten, ohne Denken und Kreativität und auch ohne Streit und Widerstände im Leben, gegen die man sich behaupten muss, nicht auf Dauer funktioniert. Andererseits ist es auch der Punkt, zu behaupten, zu wissen, wie und was gut und richtig ist, oft der Grundstein für diese Entwicklungen. Vielleicht muss die Menschheit einfach in diesem ewigen Hin und Her von Chaos und Liebe und Gewalt und Krieg und Zerstörung und Aufbau und Reibung und Zuneigung leben, weil es das ist, was uns aus macht. Vielleicht gibt es nicht den einen richtigen Zustand, in dem alles Friede und Freude ist. Man kann sich auf gewisse minimale Grundwerte einigen, aber insgesamt ist der Mensch trotz seines Herdentriebes wahrscheinlich so sehr Individualist, dass es keinen endgültigen Zustand von gesellschaftlichem Zusammenleben geben wird. Irgendwas ist immer falsch, irgendwas ist immer richtig.

          • Ja, darüber hab ich auch schon nachgedacht – warum unser übliches Genre nicht so oft um nicht zu sagen sogar sehr selten solch intensive Diskussionen nach sich zieht. Ich vermute auch, wir lesen davon viel zu viel. :-)

            An „Lügenland“ hat mir gefallen, dass die Protagonistin gezwungen wurde, sich mit dem Widerstand zu befassen und dann ein langsames Umdenken statt gefunden hat. Zugegeben ist die Idee mit der Doppelgängerin ein wenig weit hergeholt. Aber dieses langsame Umdenken hat mich überzeugt – hauptsächlich deswegen weil ich bei vielen vorigen dystopischen Büchern oder Filmen oft den Beweggrund nicht verstehe, warum sich die Protagonisten denn nun plötzlich für den Widerstand entscheiden.
            Aber politisch ist es – definitiv. Das liegt wohl auch ein wenig am Zeitgeist, daran, dass die Autoren und Autorinnen damit versuchen, die Leute zu überzeugen, dass die aktuellen politischen Entwicklungen in die falsche Richtung gehen. Ich persönlich bezweifle ja, dass das funktioniert, denn ich fürchte, solche Leute lesen diese Bücher gar nicht….
            Zu Juli Zeh sag ich dann was, wenn Deine Meinung online geht, aber Jerome Leroy grab ich gleich mal wieder aus meinen SUB aus… seufz, zu wenig Zeit, zu viele Bücher….

            Da sagst Du ein wahres Wort: wir sind extrem strapazierfähig und anpassungsfähig. Und wir tendieren dazu den einfachen Weg zu wählen, denn der Weg des Widerstands ist einfach schwer, mit Rückschlägen oder Scheitern verbunden, mit Kraft und Ausdauer. Ich denke, nicht jeder ist dafür geeignet den größten Widerstand zu leisten, wenn es denn so weit ist. Es gibt auch immer kleine Dinge, denn nicht jeder ist mutig oder oft hat es ja auch etwas mit dem Schutz der eigenen Familie zu tun. Aber das schlechteste ist natürlich gar keinen Widerstand zu leisten.

            Auch die Dystopien, die ich bisher gelesen habe, zeigen, dass sich letztendlich die Menschlichkeit durchsetzt – mit Ausnahme von Oryx und Crake, allerdings ist das ja der erste Teil der Trilogie, der quasi erstmal aufbereitet, wie es zu der Anfangssituation kam. Und bei American War… hm. Darüber muss ich noch nachdenken.
            Der fromme Wunsch, dass überall auf Erden Frieden herrschen sollte, ist meines Erachtens auch nicht die Non-Plus-Ultra Lösung. Hier wird verkannt, dass der Mensch einfach ein Individualist ist. Trotzdem denke ich, dass mit gewissen Grundregeln zumindest ein gewisses Maß an Stabilität gehalten werden könnte. In mir ruft es ja hin und wieder, dass die Abschaffung des Kapitalismus vieles lösen würde – kein Geld, keine Macht, etc – aber ich befürchte auch mein Hirn ist zu klein und ich kann die Folgen davon gar nicht absehen. :-)

          • Da muss ich kurz noch eine Ungenauigkeit von mir aufklären, bevor es zum Missverständnis wird, ich meinte bei Juli Zeh nicht „Corpus Delicti“, das ich für das Spezial noch lese, sondern „Leere Herzen“, weil das in diese Politthriller/-krimi-Richtung mit den leicht dystopischen Ansätzen passte, daher erwähnte ich das in dem Kontext.

            Was die Abschaffung des Kapitalismus und des Geldes und die Lösung vieler Probleme angeht, ich bin nicht sonderlich fit in Wirtschaftsfragen und kaum in der Lage, hierzu mehr als eine Äußerung auf Stammtischniveau abzuliefern, deswegen lasse ich das lieber. Allerdings, mein eher negativ behaftetes Bild von uns Menschen sagt mir, dass auch ohne Geld der Mensch Wege finden wird, sich und andere zu unterdrücken, Macht auszuüben und Gewalt anzuwenden. Ich denke nicht, dass unsere Wirtschaftsform das Problem ist, sondern das, was wir Menschen daraus machen. Und wir würden es auch vermasseln, wenn es keinen Kapitalismus gäbe. Man braucht sich ja nur all die Staaten und Gesellschaftsformen anzusehen, in denen es anders geregelt ist. Die Menschheit versaut es sich auf die eine oder andere Art immer, es ist ihre Natur. Herrje, ich klinge verdammt negativ …, es gibt ja durchaus auch viel Schönes auf der Welt, Literatur zum Beispiel. :D

          • Nein, nein, du hast schon recht – wir vermasseln es uns einfach immer selbst wieder. Aber vermutlich macht das auch den Reiz des Menschseins aus – nehme ich mal die Craker (die ja in Oryx und Crake die neuen gezüchteten Menschen sind), sind diese vielleicht friedlich und anpassungsfähig, überlebensfähig und total glücklich, aber es fehlt ihnen doch auch so viel. Ist nach einem Streit nicht die Versöhnung das schönste was es geben kann? Entsteht Kunst nicht durch das Verlangen schöne aber auch schrecklich Seiten zu zeigen? Machen schlimme Ereignisse Menschen nicht stärker? Ich denke, wir können und sollen gar nicht anders.

        • Und ja, ich könnte da auch stundenlang drüber reden…. hehe…

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  6. Ich habe den Film gesehen und fand ihn super gemacht, wenn auch überaus brutal und verstörend. Von deiner Rezension bekomme ich das Gefühl, dass das Buch die Brutalität vielleicht ein bisschen dämpft, indem es in dieser Sprache (Slang?) geschrieben ist, die man erst mal übersetzen muss. Im Film kann ich mich an keine Kehrtwende erinnern (dass der Protagonist plötzlich gut wird) – ich fand, es war eher eine Geschichte in dem Sinn: Gewalt erzeugt Gewalt erzeugt Gewalt usw. Was mich interessieren würde: Wird in dem Buch das Verhalten des Protagonisten irgendwie erklärt (durch seine Erziehung, Vergangenheit oder ähnliches)?

    • Nein, es gibt keinerlei Begründung, warum Alex bzw. die Jugendlichen sich so gewalttätig verhalten, wobei es eine Szene gibt, in der Alex in der Zeitung einen Artikel liest, dessen Sinn aussagt, dass die Erziehung fehl geschlagen ist, aber selbst Alex findet den Artikel unglaubwürdig, da jegliche Erziehungsversuche oder auch nur -ansätze gänzlich ignoriert. Der Autor geht meines Erachtens davon aus, dass es auf Bosheit basiert, bzw. dem Teufel. Danach würde es eben nur zwei Möglichkeiten geben – es entweder austreiben, oder ihm den freien Willen zu lassen, mit der Konsequenz, dass die Gewalt bestehen bleibt.
      Die Kehrtwende findet tatsächlich – im Buch – erst im allerletzten Artikel statt und das Vorwort (welches ich danach gelesen habe) erwähnt auch, dass gerade diese Kehrtwende sehr kontrovers diskutiert wurde und wird, allerdings hat der Autor diese verteidigt mit dem Hinweis, dass es keine Fabel der Ursünde ist, sondern ein Roman über eine moralische Entscheidung (frei zitiert aus dem Vorwort).
      Ich finde allerdings nicht, dass das Buch die Gewalt dämpft, ich kann mir aber vorstellen, dass diese mit Bildern untersetzt einfach nochmal intensiver wirkt. Also: the other way round. Aber das ist reine Spekulation, denn ich hab den Film nicht gesehen, sondern nur einen Ausschnitt.

  7. Hallo Christina, danke für die Verlinkung. Deine Zweifel und Minuspunkte an dem Buch kann ich verstehen, sehe es aber trotz allem als Dystopie an. Man muss nur die Umstände betrachten, in welcher Zeit das Buch entstand. Wenn mich meine Erinnerung nicht trübt, muss es damals in UK ordentlich abgegangen sein mit Jugendgangs und Gewalt. Burgess hat das dann konsequent weitergeführt. Mir graust es immer noch bei den Methoden, die alle Seiten anwenden. Leider war das Ende, welches Kubrick im Film erdachte, das Bessere, weil konsequenter in seiner Aussage.

    Liebe Grüße
    Marc

    • Hi Marc!
      Ach, vielleicht muss ich doch noch den Film gucken, so wie ich hier die Kommentare sehe! :-)
      Ja, das Ende im Buch wird sehr kontrovers gesehen, was ich durchaus nachvollziehen kann, da die Kehrtwende ja doch recht plötzlich erfolgt.
      Ich habe das Buch tatsächlich ohne Hintergrundrecherche gelesen – ich war in den Sechzigern noch gar nicht auf der Welt und hab darüber auch noch nichts gehört, dass es dort vermehrt Gewalt von Jugendlichen gab, aber in dem Kontext kann man das Buch natürlich besser verstehen. Tatsächlich wurde das auch im Vorwort – welches ich nachträglich gelesen habe – nichts erwähnt. Ich meine, dass der Autor besorgt ist über die Entwicklung der Jugendlichen ist schon raus gekommen, aber ich wusste nicht, dass es auf solch einer Entwicklung basierte.
      Und zum Begriff Dystopie… ach, ich bin einfach noch nicht bei einem endgültigen Fazit angelangt. Ich kann die Frage „Was ist eine Dystopie“ noch nicht klar beantworten und umso mehr Bücher ich in dieser Richtung – ob nun vor dem Spezial oder danach – lese, umso unklarer werde ich mir. Ich bin mir gar nicht sicher, ob das Genre sich klar abstecken lässt. Aber zumindest, wenn man davon ausgeht, dass es ein negativer Blick in die Zukunft ist, kann man es dort einsortieren – ich denke, auch die Tatsache, dass eine aktuelle Entwicklung / ein Ereignis vom Autor oder von der Autorin weitergeführt wird, um eben auf aktuelle Missstände hinzuweisen haben fast alle Bücher bisher gemeinsam.
      Aber letztendlich vermute ich schon mal, dass das Genre sich gar nicht so genau abstecken lässt – so wie das ja mit vielen Genres ist und das ist ja auch gut so, da das Abwechslung bringt und das Genre nicht „totreitet“.

      LG,
      Christina

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  12. Spannend. Das war jetzt wirklich mal eine Geschichte, bei der ich den Film, aber noch nicht das Buch kannte. Und in dem Fall sogar und ausnahmsweise gar nicht so blöd, wenn ich an die Leseschwierigkeiten bei der erfundenen Jugendsprache denke.
    Ob Die Geschichte in einer Zukunft spielt und uns was lehren will? Ja und nein sicherlich. Es gibt ja viele Zukunftsvisionen, die gar nichts mit Zukunft zu tun haben, sondern einfach nur mit menschlichen Eigenschaften. Und auch die Zunahme der Gewaltbereitschaft: tatsächlich oder (auch durch exzessive Berichterstattung) gefühlt? Wir – und das ist schon Jahrzehnte her – hatten vor manchen Gruppen Angst, wenn wir zur Schule gingen. Und wurden vor manchen Gegenden der großen Stadt zumindest zu bestimmten Zeiten gewarnt. Und man hörte Geschichten… die es aber fast nie zu Evidenz brachten, geschweige denn in die Nachrichten, Internet für Behauptungen aller Art gabs noch lange nicht. Und die vor uns? Erlebten organisierte staatliche Gewalt, erlebten Lehrergewalt als angewandte Pädagogik und es war normal, sich von Dorf zu Dorf zu prügeln, ja, staatliche Organisationen förderten die Bildung von Schlägercliquen, die aufeinander losgingen und sich blutig prügelten, um die Kampfkraft für die nach allgemeiner ANsicht unvermeidlich notwendigen Kriege zu fördern. Das war Gewaltbereitschaft!
    Das soll nicht heißen, dass es besonders nett ist, irgendwelche Leute die Treppe runter und vor die U-Bahn zu schubsen. Das wäre früher kaum vorgekommen. Warum? Weil da PErsonal anwesend war. Bahnpolizei, Schaffner (auch in der Bahn, dem Bus, der Tram!!) und so weiter. Nicht Kameras, Manpower. Das, was allenthalben und immer noch mehr eingespart werden soll. Und diese anwesenden Uniformierten hätten bei entsprechendem ANlaß – siehe oben – ohne zu zögern körperliche Gewalt angewandt, womit sich der allerdings ziemlich fatale Kreis schließt.
    Was ich allerdings glaube: dass sich die moderne GEsellschaft viel mehr als früher von scheinbar oder wirklich anlaß- und sinnsloser GEwalt faszinieren läßt. Früher hatte man ja einen wenn auch nicht gerade guten Grund: Man verteidigte die In-Group, die Ehre, das Vaterland (oder Dorf, wo ist der Unterschied), das REcht. Und wenn man Angriff, dann ja nur um frühere Prügel zu rächen. Natürlich gab es früher auch schon diese scheinbar aus dem Nichts kommenden Taten, aber deren Täter wurden schnell als sowohl absolut bösartig als auch wahnsinnig abgestempelt, es gab ja viel mehr andere, und man konnte zur Tagesordnung übergehen.

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