Die dunklen Felle

Krimis, Thriller und Science Fiction

Diametral: Das Auge von Hongkong – Chan Ho-kei

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Wenn man sich auf dem kriminalistischen Büchermarkt so umsieht, gibt es doch tatsächlich nur ein recht überschaubares Angebot an Krimis, welche von chinesischen Schriftsteller/innen stammen oder in China spielen. Liegt das nun daran, dass es dort nur wenige Krimischriftsteller/innen gibt? Oder daran, dass diese es einfach noch nicht geschafft haben, ins Deutsche übersetzt zu werden? Ich persönlich wünsche mir aber, dass es bald mehr chinesische Schriftsteller/innen gibt, deren Bücher in Deutschland erscheinen, vor allem natürlich im Krimi-Bereich, denn hier gibt es bestimmt noch mehr zu entdecken.

Nun liegt Hongkong ja auch in China, hat aber durch die lange Regentschaft von Großbritannien  als Kronkolonie nun doch ein anderes Flair als das restliche China, ganz zu schweigen von einer anderen Geschichte, Regierung und Wirtschaftspolitik. Weit über hundert Jahre war Hongkong von England beeinflusst, seit nunmehr aber schon 20 Jahren gehört es wieder zu China, wenn auch als Sonderverwaltungszone mit besonderen Rechten. Hongkong war also dem Westen gegenüber schon immer aufgeschlossener, nichtsdestotrotz sind die Bewohner größtenteils Chinesen. Dieser Mix aus westlichen und östlichen Einflüssen macht Hongkong zu einer faszinierenden Metropole, die im Krimi natürlich entsprechende Würdigung erfährt.

Hier hat nun der Autor seinen Protagonisten, Kwan Chun-dok, einen Polizisten, hineingesetzt. Einen Rang kann man hier gar nicht nennen, denn die sechs im Buch enthaltenen Geschichten decken einen Zeitraum von fast 40 Jahren ab, so dass Kwan im Laufe der Zeit verschiedenste Positionen durchläuft. Welcher Name ihm aber immer folgt, ist „Das Auge von Hongkong“, den er sich durch seine  Kombinationsgabe und unzählige gelöste Verbrechen verdient hat. Respektvoll murmeln seine Kollegen diesen Namen und halten viel auf den Kommissar. Durch seine ausgefeilte Kombinationsgabe liegt der Schluss nahe, ihn mit Sherlock Holmes zu vergleichen und wahrlich zeigt auch Kwan neben seiner genialen Art zu Kombinieren einige Besonderheiten, von seiner Sparsamkeit bis zu seinem Sinn für Gerechtigkeit, doch genauso viele Unterschiede lassen sich finden.

„Lok fühlte sich angesichts dieser Antwort regelrecht befreit. Sein Mentor [Kwan] nutzte zwar mit Vergnügen allerlei zwielichtige Methoden, um an sein Ziel zu gelangen, aber der Wert jedes einzelnen Menschenlebens war für ihn grundsätzlich unschätzbar.“ (S. 191)

Der Fokus der einzelnen Geschichten liegt natürlich auf den entsprechenden Ermittlungen, doch politische und gesellschaftliche Änderungen fließen unwillkürlich auch ein, manchmal mehr, manchmal weniger. Der Aufbau der Polizei, in welcher erst nach und nach Chinesen in die oberen Ränge befördert werden, die Korruption in der Polizei, die Unruhen 1967, die Übergabe Hongkongs an China im Jahre 1997… diese und viele weitere größere Themen und kleinere Nebensächlichkeiten zeigen Hongkong und seine Veränderungen im Laufe der Jahre.  Manchmal tritt Hongkong, die Stadt und deren Kultur, mehr in den Vordergrund, manchmal aber auch nicht und der Fokus liegt auf dem Verbrechen, bzw. der Ermittlung.

Doch jede einzelne Geschichte zeigt ein anderes Verbrechen, eine andere Art von Kriminalität. Dabei geht es um Triaden und Gangs, aber auch um Verbrechen aus Rache und Geld. Ein kleines Füllhorn an Novellen, die der Autor geschickt platziert. Folgende sechs Geschichten sind enthalten:

  • „Die Wahrheit zwischen Schwarz und Weiß“ (2013) berichtet von einem Erbfall, bei dem eine Harpune eine tragende Rolle spielt
  • „Gefangenenehre“ (2003) ist oberflächlich eine Geschichte im Musikbusiness, doch eigentlich geht es um Triaden und ein Singvögelchen.
  • „Langer Tag“ (1997) geht es um eine spektakuläre Flucht aus dem Gefängnis, Säurebombenanschläge und Brandanschläge – und das alles an einem Tag.
  • „Die Waage der Themis“ (1989) räumt in den eigenen Reihen auf und Kwan überführt einen Verräter.
  • „Geborgter Ort“ (1977) ist erst eine Entführung, dann doch nicht, aber irgendwie doch und dann ist es ein Raub.
  • „Geborgte Zeit“ (1967) ist die politischste Geschichte, spielt sie doch in den Zeiten der Unruhen 1967, und dreht sich um einen Bombenanschlag.

Die Geschichten sind wirklich sehr vielfältig, doch besonders in Erinnerung bleiben werden mir die erste Geschichte und die letzte Geschichte. Raffiniert hat der Autor die Erzählungen diametral aneinander gereiht, so dass man mit Kwans letztem Fall im Jahre 2013 beginnt und mit einem seiner ersten Fälle im Jahr 1967 endet. Im letzten Fall löst Kwan einen Fall quasi ohne da zu sein, derweil der Autor im ersten Fall den Leser ganz lange foppt, bevor er ihm verrät, wer Kwan ist, da er hier nur Bezeichnungen wie „Cop 7“ oder „Cop 3“ verwendet – und ja, er hat mich gekriegt, denn ich hatte tatsächlich Kwan in jemand anderem vermutet. Eine sehr gelungene Finte!

Die Geschichten können unabhängig voneinander gelesen werden, das verbindenden Elemente sind  Kwan Chan-Dok und in den jüngeren Jahren sein Zögling Sonny Lok, die Fälle sind höchstens durch Kleinigkeiten verknüpft, wie z. B. wiederkehrende Kollegen. Die gewählte Novellenform passt hier auch hervorragend, denn man hat trotzdem ausgefeilte Geschichten, aber kann sich das Buch in sechs Häppchen aufteilen. Der Spannungsaufbau basiert hier eher auf dem Versuch des Lesers, sich am „Auge von Hongkong“ zu messen und den kniffligen Fall vielleicht sogar vorher zu lösen. Auch wenn einige spektakuläre Verbrechen passieren, sind doch eher keine Actionszenen vorhanden. Das Miträtseln und dann bei der Auflösung verwundert den Kopf zu schütteln macht aber irre viel Spaß.

„Aufgabe der Polizei ist die Enthüllung der Wahrheit, die Verhaftung der Schuldigen, der Schutz der Unschuldigen – aber wenn die Regeln es nicht vermögen, Kriminelle zur Strecke zu bringen, wenn die Wahrheit im Dunkeln bleibt, wenn Unschuldige sich nirgends hinwenden können – in genau solchen Fällen stürzte Superintendent Kwan sich mit Freuden in den grauen Sumpf und schlug die Verbrecher immer wieder mit ihren eigenen Waffen.“ (S. 94)

Fazit:
Sechs wunderbare Novellen rund um Hongkong und „Das Auge von Hongkong“, einen Polizist, der sich ganz sicher nicht hinter Sherlock Holmes verstecken muss. Besonders gelungen ist der Aufbau des Buches und die diametral verlaufenden Geschichten, die Hongkong und dessen Veränderungen im Laufe der Jahre spiegeln.

 



Chan Ho-kei – Das Auge von Hongkong
Verlag: Atrium
Übersetzerin: Sabine Längsfeld
572 Seiten
ISBN: 978-3855350285

 

 

 

 


 

11 Kommentare zu “Diametral: Das Auge von Hongkong – Chan Ho-kei

  1. Ich hatte es befürchtet. Jetzt muss ich das Buch doch wieder auf den Merkzettel packen…

    Ab sofort bitte nur noch Verrisse. :-D

  2. Pingback: Reblogged | Chan Ho-Kei - Das Auge von Hongkong

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  5. Hach, wunderbar und neugierigmachend vorgestellt! :) Ich habe den Roman ja auch hier liegen, wollte eigentlich bis zum Spezial mal reinlesen, aber ich denke, das werde ich die Tage dann nachholen, gerade durch diesen novellenhaften Charakter kann man sich das ja ein bisschen aufteilen. Schaue gerade eine chinesische Krimiserie auf Netflix und habe es auch noch geschafft, in der Arte Mediathek „The Assassin“ zu schauen, der war ja nur noch bis heute verfügbar. Total im Spezial-Modus also hier bei mir. :D

    • Gerade die Aufteilung in sechs Geschichten fand ich super – die Kürze, vor allem aber eben auch diese in die Vergangenheit laufende Erzählung war genial. Ich kann es nur empfehlen.
      P.S. Zwei der Filme habe ich bei Prime gefunden – ich werde versuchen sie bis zu deinem Beitrag auch anzusehen. 😁

  6. Es liegt hier. Dieser fette Schinken. Allerdings muss er sich noch ein wenig gedulden, stecke in den Halloween-Vorbereitungen *händereib* Was ich bisher gar nicht so wahrgenommen hab: Dass es einzelne kleine Geschichten sind. Vielleicht findes es ja auf dem Nachschrank heute noch Platz :3

  7. Hallo,

    ok, das muss schon mal auf die Wunschliste… Eure Aktion könnte katastrophal für meinen SUB sein!

    LG,
    Mikka

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