Die dunklen Felle

Krimis, Thriller und Science Fiction

Ohne Sprache keine Identität: Mova – Viktor Martinowitsch

Ein Kommentar


Viktor Martinowitsch – Mova
Verlag: btb
Übersetzer: Thomas Weiler
392 Seiten
ISBN: 978-3442717002

 

 

 

 

Als ich das Buch entdeckt habe, hat es mich sofort angesprochen. Titel, der Klappentext, Cover… Minsk in der Zukunft. Spannende Sache. Und dann hab ich gelesen, dass „Paranoia“, der erste Roman, der von Viktor Martinowitsch auf Deutsch erschienen ist, in Weißrussland inoffiziell verboten ist und der Autor, gemeinsam mit der einzigen nicht-staatlichen Universität, der Europäischen Humanistischen Universität ins Exil nach Vilnius gegangen ist. Wie schrecklich… da arbeite ich doch tatsächlich tagtäglich mit Kollegen aus Minsk zusammen und weiß fast gar nichts über das Land. Zwar hat der Autor „Mova“ in der Zukunft angesiedelt, doch seid Euch gewiss, dass der Autor Euch nicht ohne Wissen zu seinem Land, Weißrussland, das Buch beenden lässt.

Minsk im Jahre 4741 (nach gregorianischem Kalender 2044) gehört zum Bündnisstaat China-Russland. Vehement geht die Regierung gegen die neue Droge „Mova“ vor und kann sie trotzdem nicht eindämmen. Mova –Briefchen sind für den Konsumenten oft unverständlich, literarisch fragwürdig und trotzdem ein Rauschmittel. Eine Droge, die keine physischen Auswirkungen hat, die keine Abhängigkeit verursacht und trotzdem von der Staatlichen Suchtmittelkontrolle verteufelt wird – lieber soll man doch die Staatsdrogen Alkohol oder Cannabis konsumieren. Und Dealer schleusen die kleinen Briefchen mit der kostbaren Schrift ins Land. Wer es liest, versteht es kaum, aber erlebt wahre Glückseligkeit, mal länger, mal kürzer, je nach Qualität des Stoffs. Der Handel liegt in den Händen der chinesischen Triaden, aber es gibt auch noch die Zigeuner und die unabhängigen Dealer. So wie einen der Erzähler der Geschichte. Doch der gerät schon bald ins Visier der Triaden, als er in seinem letzten geschmuggelten Rucksack eine Printe findet. Ein ganzes Buch in Mova. Ein Mysterium, eine Unglaublichkeit, die es gar nicht geben dürfte.

„Ich bin überhaupt der Auffassung, dass Leser […] geschlossene Systeme sind, die sich selbst genügen. Dass sie im Grunde gar keinen Bedarf an Mitmenschen haben.“ (S. 222)

Der zweite Erzähler ist der Junkie, von dem man tatsächlich nie den Namen erfährt, während der Name des Dealers irgendwann doch auftaucht. Abwechselnd erzählen sie von China-Russland, von Mova, vom Drogenhandel und –konsum. Das Minsk der Zukunft wird gar nicht so genau beschrieben, der Autor bleibt oft vage, erzählt nichts, zeigt nur, lässt Orte wie Nebensächlichkeiten einfließen. Einzig Chinatown in Minsk erfährt eine genauere Beschreibung und ich stelle es mir bombastisch vor. Über und untereinander gebaut, alle Fleckchen ausgenutzt, Gewusel und Dreck, in den Himmel ragend, die untersten Ebenen scheinen schon unterirdisch, obwohl oberirdisch, da gar kein Licht dran dringt… woah, was ein Erlebnis. Die Bilder in meinem Kopf, gigantisch. Die „alten“ Religionen haben ausgedient, es leben die Shoppinggötter. Die Vergangenheit, also unsere heutige Zeit ist eigentlich gar nicht so weit weg, doch die beiden Protagonisten verkennen einfachste Dinge, z. B. wie ein Auto angetrieben wird. Man darf den beiden aber auch nicht zu sehr Glauben schenken, sind sie doch beide recht unzuverlässige Erzähler.

Und doch, ohne viel Aufhebens darum, dringt die Botschaft des Autors zu einem durch, spitzt sich die Handlung zu. Auch wenn nicht dediziert Krimi genannt, gibt es doch viele Elemente, die das Buch unglaublich spannend machen und kriminelle Handlungen darstellen. Drogen, Wohnungsbrand, die Triaden, das Verstecken vor den Behörden. Ah, und mit einer Leichtigkeit gelingt es dem Autor den Leser an der Nase herumzuführen. Verpackt hat er in die kriminellen Handlungen denn eigentlich ein Plädoyer für die Sprache, für Identität und Selbstbestimmung. Atmosphärisch dicht, vielleicht in einigen Punkten nicht immer nachvollziehbar, aber gut konstruiert und gewoben. Ein Buch, welches Kritik übt an Konsum und diktatorischen Regierungen; ein Buch, welches fragt und hinterfragt, aufdeckt und bedeckt; ein Buch, welches einen nachdenken und sinnieren lässt. Eine Antiutopie.

„Darin liegt ja das Wunder dieser Glücksmomente, das sie nie länger als eine Sekunde dauern. Ein Wimpernschlag, und weg sind sie. Deshalb darf man möglichst lange nicht blinzeln.“ (S. 40)

Fazit:
Bücher, die einen dazu anregen, nachzudenken, etwas nachzuschlagen und zu recherchieren; Bücher, die einem nicht aus dem Kopf gehen und immer wieder in den Gedanken auftauchen, das sind die wirklich guten Bücher, die Bücher, die man lesen sollte und lesen muss. Und so eines ist „Mova“.

Ein Kommentar zu “Ohne Sprache keine Identität: Mova – Viktor Martinowitsch

  1. Das klingt jetzt mal wirklich interessant. Und vor allem so naheliegend, auch im Titel, denn das ist eine uralte, steinzeitalte menschliche Wahrheit: die Sprache der einen und die Laute der anderen, die wählten schon alte Griechen als Unterscheidung zwischen Kulturmenschen und Barbaren. Noch deutlicher meist Naturvölker, sie unterschieden gleich in Menschen (Wir) und die Anderen. Dass das Buch zur Droge wird freilich müssen wir kaum befürchten, dazu sind sowohl auf der einen Seite Staatsorgane wie auf der anderen Reinwaschkulturbeflissene weltweit zu aktiv: wir werden nur noch bereinigtes Material zu lesen bekommen.

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